Vernunft - sie wird allgemein gefordert im Umgang mit den Ressourcen unserer Erde, in der Politik, im Zusammenleben der Völker und und ... Kein Konsens herrscht jedoch darüber, wie Vernunft entsteht, wie sie wirksam wird, bzw. wie man sie effizient fördern kann. Sieht Fritz Preuss ihren Ursprung im Metaphysischen, so bietet v. Braunmühl ein ganz anderes praxisbezogenes Erklärungsmodell für das Phänomen Vernunft an. Zunächst stellt er dar, dass es eine Diskrepanz zwischen Wollen und Handeln gibt. Eigentlich will jeder das Vernünftige, also jene Entscheidungen und Handlungsweisen, die bei allen Beteiligten ein Optimum an Zustimmung finden, aber kaum einer realisiert dieses Wollen. Die Ursache dafür sieht der Autor in einer "übertriebenen", zu gut gemeinten Erziehung, die die geistige Teilung des Menschen in Verstand und Seele/Psyche nicht berücksichtigt. Erziehung und andere Belehrungen sollten sich ausschließlich an den Verstand richten (daher Anti-Psychopädagogik). denn er ist guasi die Vermittlungsinstanz zur Seele, die an sich egoistisch und unvernünftig ist. Befürchtet die Psyche durch moralisierende Belehrung eine Herabsetzung ihres Selbstwertgefühls oder vermutet sie, bestimmte Handlungsanweisungen würden ihren Freiraum schmälern, so zeigt sie Antireaktionen. Sie weist den Verstand an, gerade nicht den Anweisungen entsprechend zu handeln. Damit wird ein kommunikativer Teufelskreis der Unvernunft heraufbeschworen. Vernunft kann, will man dem Autor folgen, nur dort entstehen und wirksam werden, wo gesellschaftlich und individuell das Vorhandensein von Verstand und Seele akzeptiert wird, wo individuell der Dialog von Verstand und Psyche funktioniert. Diese Vernunftethik geht davon aus, dass der Mensch an sich gut ist. Menschliche Untaten werden als Überreaktion eines Verstandes definiert, der das exekutive Organ einer geknechteten, terrorisierten Seele ist. Aber wer ist schon in der Lage, den täglichen Psychoterror überwindend, seine eigene Seele befriedend, zur Vernunft zu kommen?
Braunmühl, Ekkehard v.: Zur Vernunft kommen. Eine "Anti-Psychopädagogik". Weinheim (u.a.): Beltz, 1990. 204 S., DM 32,-1 sFr 27,40 1 öS 249,60