Viktor E. Frankl erinnert sich in ... trotzdem ja zum Leben sagen (1946) an seine Zeit in deutschen Konzentrationslagern und schreibt einen psychologischen Bericht, der die Phasen der Entmenschlichung für Häftlinge darstellt, vor allem auch darauf hinweist, dass es unter den widrigsten Umständen möglich, ja für das Überleben notwendig ist, einen Sinn im Leben zu erkennen; welche Einstellung man gegenüber gegebenen Verhältnissen einnimmt, ist die letzte menschliche Freiheit, die einem nicht genommen werden kann. Als Edith Eva Eger dieses Buch 1966 als Geschenk überreicht bekommt, will sie es erst nicht lesen, hat sie doch diesen Part ihrer Vergangenheit zu einem Tabuthema erklärt, für sich selbst und alle um sie herum: Die Zeit in Auschwitz, Mauthausen, Gunskirchen; der Rauch aus den Schornsteinen, der Todesmarsch, die Leichenberge; der Verlust der Eltern und des Geliebten. Nein, zu diesem Zeitpunkt gesteht sie sich noch nicht zu, Verluste, Wunden und Enttäuschungen zu betrauern, hat noch nicht realisiert, dass sie damit dazu verurteilt ist, diese immer wieder neu zu durchleben. (vgl. S. 27) Frankls Lektüre ist es dann aber, die ihren notwendigen Prozess der Vergangenheitsbewältigung entscheidend anstößt, mit der sie versteht, dass sie auch in den USA noch längst nicht frei ist, dass sie dafür vielmehr das selbstgebaute Gefängnis in ihrem Kopf verlassen muss. Das, was Eger in den kommenden Jahrzehnten über die Aufarbeitung ihrer traumatischen Erlebnisse lernt, verwendet sie auch, um als Psychotherapeutin anderen bei ihren individuellen Herausforderungen, gerade posttraumatische Belastungsstörungen, zu unterstützen, ihnen zu sagen: „Sie können nicht ändern, was Sie getan haben oder was Ihnen angetan wurde. Aber Sie können wählen, wie Sie jetzt leben.“ (S. 465)
Die Psychologie der Freiheit
Egers Überlebensgeschichte, ihr Heilungsprozess und ihre Arbeit als Psychotherapeutin bilden im vorliegenden Buch – wie bei der challah, dem Brot, das Egers Mutter stets zum Sabbatmahl buck – drei miteinander verflochtene Stränge. Und, das wurde an anderen Stellen schon mehrfach benannt, so wie Frankl über die Psychologie des Gefangenseins geschrieben hat, so zeigt uns Eger die Psychologie der Freiheit, die für sie darauf folgte.
„Wenn wir trauern, geht es nicht nur um das, was geschehen ist – wir trauern um das, was nicht geschehen ist. Ich beherbergte in mir ein Jahr des Horrors. Und ich beherbergte einen freien, leeren Raum, die unermessliche Dunkelheit des Lebens, das es nie geben würde. Ich trug das Trauma und den Verlust, und ich konnte weder ein Stück meiner Wahrheit loslassen, noch eines davon leichten Herzens bewahren.“ (S. 333) Es ist natürlich kein einfacher Kurzstreckenlauf, den wir mitverfolgen dürfen. Es ist ein schmerzender, trauriger, fröhlicher, vor allem lebensbejahender Marathon, den Eger immer noch läuft.
Ein lebenslanges Lernen
Eger zeigt uns sehr persönlich, wie sie an ihrer Trauma-Bewältigung arbeitet, erklärt Erkenntnisse, für die sie intensiv arbeiten musste, um sie tatsächlich zu verinnerlichen. Und dieses lebenslange Lernen bietet sie uns an, wenn sie etwa auf den Unterschied zwischen Opfer-Sein und Viktimisierung hinweist: „Wir werden zum Opfer nicht durch das, was uns passiert, sondern dann, wenn wir an unserer Viktimisierung festhalten. Wir entwickeln eine Opfermentalität – eine Art zu denken und zu sein, die unbeugsam ist, anklagend, pessimistisch, in der Vergangenheit festgefahren, unversöhnlich, strafend und ohne gesunde Beschränkungen oder Grenzen. Wenn wir beschließen, in den Mauern unserer Opfermentalität zu bleiben, werden wir zu unserem eigenen Kerkermeister.“ (S. 29) Oder wenn sie darauf eingeht, dass wir uns nicht an das klammern sollen, was war oder was sein wird: „Wenn wir in der Vergangenheit feststecken (...) leben wir in einem Gefängnis, das wir uns selbst erschaffen. Genauso ergeht es uns, wenn wir immer nur in die Zukunft gerichtet denken. (...) Der einzige Ort, an dem wir unsere Freiheit der Wahl ausüben können, ist in der Gegenwart.“ (S. 304) Von Anfang macht Eger außerdem deutlich, dass Leid nicht hierarchisch eingeordnet werden kann und darf: „Es gibt nichts, was mein Leid schlechter oder besser macht als ein anderes, kein Diagramm, mit dem wir die relative Bedeutung eines Kummers versus eines anderen darstellen können.“ (S. 29f.)
Ich bin hier und alles ist jetzt ist eine einnehmende und inspirierende Geschichte, die zeigt, wie man sich immer wieder neu für das Leben entscheiden, wie man das eigens gezimmerte Gefängnis im Kopf verlassen kann. Mit The Gift bringt Eger im Herbst übrigens im Alter von 92 Jahren eine ergänzende Lektüre heraus, ein Handbuch, das den Fokus noch mehr auf Bewältigungsstrategien legen wird, noch mehr Anleitung gibt, kompakt zeigt, was sie mühsam lernen musste, um frei zu sein.