„Schaffen wir das“, wie die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel meint, oder können wir nicht alle nehmen? Diese Frage wird von der langjährigen Außenpolitik-Journalistin Livia Klingl sehr klar beantworten: Für sie ist es nicht nur humanitäre Pflicht und geltendes Gesetz, sondern auch sinnvoll und notwendig, Flüchtlinge aufzunehmen. Eine neue Ausländerpolitik, so die Journalistin, sollte es Flüchtlingen ermöglichen, in einem solidarischen Europa ein neues Leben in Frieden zu finden. Für Wirtschaftsmigranten solle ein geordneter Zuzug erlaubt werden, der schließlich uns allen zu Gute käme. Die Autorin erinnert an sinkende Geburtenraten und Überalterung der Gesellschaft, beides Faktoren, die das Sozialsystem ihrer Einschätzung nach in naher Zukunft ins Wanken bringen könnten. Im ersten Teil des Buches stehen zunächst jene Probleme im Vordergrund, mit denen sich Länder an den Außengrenzen Europas wie Italien, Griechenland und Spanien konfrontiert sehen, auch die EU-Politik und das Dublin II-Abkommen sind Thema. Außerdem geht es um eine Klärung von Begriffen wie Migrant, Flüchtling und Asylwerber. Der zweite Teil besteht aus Porträts von Personen, die auf unterschiedlichste Weise und zu unterschiedlichsten Zeitpunkten nach Österreich gekommen sind.
Die von Klingl genannten Fakten sind eindrucksvoll aber längst nicht mehr aktuell. Zudem wird in einem Bericht auf „Spiegel-Online“ vom 5.10.2015 darauf hingewiesen, dass man sich auf Schätzungen von Flüchtlingszahlen besser nicht verlassen sollte. Die kolportierten Zahlen reichen von 800.000 bis 1,5 Millionen Asylbewerber allein in Deutschland für 2015. Fakt ist jedenfalls, dass innerhalb der EU die Zahlen der AsylwerberInnen sehr ungleich verteilt sind.
Die Autorin zitiert auch Berichte von Amnesty International, die dokumentieren, „dass zwischen Dezember 2013 und August 2014 mindestens 17 Flüchtlinge an der türkischen Grenze erschossen wurden“ (S. 38) sowie von Asylsuchenden, die sich bereits auf bulgarischem Boden befanden und dort von Polizisten bestohlen, misshandelt und in die Türkei zurückgeschickt wurden. Nicht weniger empörend ist auch die beschriebene bürokratische Willkür wie das Abwarten des Asylverfahrens ohne Entfaltungsmöglichkeiten.
Erschienen ist diese Einschätzung vor dem großen Flüchtlingsansturm auf Europa. Gerade einmal drei der 16 Porträts waren Asylanten bzw. Flüchtlinge, die erst vor Kurzem nach Österreich kamen. Alle Anderen sind schon -zig Jahre in Europa oder wurden hier (als Kinder von Immigranten) geboren. Zweifellos hat der Titel des Bandes jetzt eine andere Bedeutung als noch im Sommer letzten Jahres. Und es stellt sich mehr denn je die Frage, wie viele wir aufnehmen können und wollen.
Klingl, Livia: Wir können doch nicht alle nehmen! Europa zwischen „Das Boot ist voll“ und „Wir sterben aus“. Wien: Kremayr & Scheriau, 2015. 190 S., € 22,-
ISBN 978-3-218-00968-3