Hella von Unger, Helen Baykara-Krumme, Serhat Karakayali, Karen Schönwälder (Hg.)

Organisationaler Wandel durch Migration?

Ausgabe: 2023 | 2
Organisationaler Wandel durch Migration?

Das Buch „Organisationaler Wandel durch Migration? Zur Diversität in der Zivilgesellschaft“ beleuchtet anhand vier zivilgesellschaftlicher Organisationen in Deutschland – der Lebenshilfe, der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, dem Lesben- und Schwulenverband (LSVD) und der Aidshilfe – ob und wie sehr Migrant:innen in die Organisationen eingebunden werden und diese dadurch beeinflussen. Wesentlich dabei war für die Autor:innen, dass sich diese Organisationen auch als politische Akteure verstehen und „damit beeinflussen, welche Anliegen und Probleme in der öffentlichen Debatte sichtbar und in politischen Entscheidungen berücksichtigt werden.“  (S. 9) In die zwischen 2018 und 2021 laufende Erhebung waren die Ludwig-Maximilians-Universität München, die Humboldt-Universität in Berlin und das Max-Planck-Institut eingebunden. Die Wissenschaftler:innen konstatieren einen bisher sehr lückenhaften Forschungsstand zur Frage der gelingenden Repräsentation aller Menschen und deren Interessen. Verwiesen wird einleitend auf eine 2006 durchgeführte Studie (Strolochovitch, Dara Z.) in den USA, welche die Voreingenommenheit aufzeigt, „mit der nationale Organisationen in den USA – obwohl sie marginalisierte Gruppen vertreten – die Interessen einer weißen Mitgliederschaft aus der Mittelschicht privilegieren.“ (S. 14)

Die untersuchte Gewerkschaft ver.di etwa findet sich in einem Dilemma wieder: So ist es zum einen dringend notwendig, mittels einer breiten Aufstellung mehr Mitglieder zu generieren, zum anderen sehen manche die sehr breit gestreute Interessensvertretung von ver.di gegen die Anliegen einer kleinen Gruppe ausgespielt. Aus einem der für die Studie geführten Interviews wird das Dilemma zwischen universal und special treatment (S. 150) deutlich: „beim Scanner von Amazon ist egal, welchen Pass du hast, ist egal wie du religiös oder kulturell oder sexuell oder sonst wie gewickelt bist. Deinen Alltag in der Arbeit diktiert der Scanner.“ (S. 155 f.) Dennoch bleibt eine Ungleichbehandlung aufgrund der Herkunft bestehen, was auch im Buch „Grenzen aus Glaus. Arbeit, Rassismus und Kämpfe der Migration in Deutschland“ von Peter Birke sehr deutlich herausgearbeitet wird. Eine Lösung dieses Spannungsfeldes konnte die Vereinte Dienstleistungsgesellschaft bis heute nicht finden, doch wurden aus anfänglichen migrationsspezifischen Arbeitskreisen inzwischen Migrationsausschüsse sowie die Etablierung als Personengruppe mit „gewährleisteten Rechten wie z. B. Antragsrecht auf der BUKO“ (S. 163). Während bei ver.di also bereits erste Schritte zu einer strukturellen Verankerung migrationsspezifischer Interessensvertretungen umgesetzt wurden, kämpft die Lebenshilfe Deutschland mit eben dieser Nachhaltigkeit von gesetzten Maßnahmen. Diese, so die Autor:innen, konnten sich nicht langfristig etablieren, was unter anderem fehlenden internen migrantischen Netzwerken sowie externen Bündnispartner:innen zuzuschreiben ist.

Unterstützung wie Druck von außen

Die sehr umfassend aufgearbeitete Studie zeigt auf, dass Migrant:innen die jeweiligen Organisationen sowohl strukturell als auch inhaltlich beeinflussen. Dass es in diesem Prozess auch Fehlentwicklungen und Diskussionen gibt, erscheint in Anbetracht der Komplexität und oftmals vielfältigen Mitglieder unausweichlich. Feststeht, dass die Sichtbarkeit migrationsbezogener Themen gegeben ist, der Druck von außen präsent und sich somit auch Organisationen – zwar in unterschiedlicher Geschwindigkeit – weiterentwickeln.