Für Katja Kipping, Mitglied des Deutschen Bundestags und sozialpolitische Sprecherin der Partei DIE LINKEN, tragen die Geflüchteten eine Botschaft nach Europa: „So wie wir wirtschaften und handeln, wie wir arbeiten, konsumieren und Politik machen – so kann es nicht weitergehen.“ (S. 8) Mit den Flüchtlingsbewegungen stellt sich für die Politikerin nicht weniger als die grundlegende Gerechtigkeitsfrage, was wiederum eine Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem erforderlich macht. Kipping plädiert dafür, Einwanderung weniger als Problem, sondern vielmehr als Bereicherung zu sehen. „Diese Perspektive ist eng verknüpft mit einem neuen Verständnis von Kultur - und zwar einer Kultur frei von jeglichem nationalen Reinheitsgebot oder Leitkultur-Ansprüchen.“ (S. 9) Ihrer Ansicht nach sollten wir statt von Leit- und Nationalkulturen von liquiden, „sich beständig verändernden Kulturen im Plural ausgehen“ (ebd.). Dies bedeutet eine Absage an eine Politik fragmentierter Souveränität. Zukunftsfähige Politik, so Kipping, kann keine Verteidigung des Status quo mehr sein. „Sicherheit wird es nur durch Veränderung geben: Veränderung der Politik, des Systems und unserer eigenen Lebensweisen.“ (S. 132)
Die Autorin versteht es, mit der „neuen Sichtbarkeit der Flüchtlinge“ die größeren Geschichten dahinter, nämlich die der globalen Ungerechtigkeit unserer Weltwirtschaftsordnung, aufzuzeigen. „Doch die Politik in Deutschland und in Europa ist unfähig, angemessen darauf zu reagieren“, meint die Autorin (S. 14). Und es geht ihr dabei, wie sie sagt, nicht um individuelle Schuld eines jeden einzelnen. Aber der Verantwortung, die Fluchtursachen abzubauen, müssen wir uns gemeinsam stellen.
Abschließend erörtert Kipping, welche Schritte notwendig sind, damit aus der Hoffnung auf Demokratie in der Einwanderungsgesellschaft eine neue Realität wird. Sie plädiert dafür, an kommenden, unabdingbaren Veränderungen aktiv mitzubestimmen, um Einfluss darauf zu nehmen, wie sie ablaufen, welche Effekte sie haben werden und wer dafür bezahlen wird. Und sie gibt die Hoffnung nicht auf, dass die aktuellen Herausforderungen zu einem positiven Wendepunkt für Deutschland und für Europa werden. Um der wachsenden Angst und dem zunehmenden Rassismus entgegenzuwirken, wäre es an der Zeit, eine Garantie für Sozial- und Rentenkürzungen abzugeben, meint Kipping. Weiters gelte es, Begegnungen zu fördern und alles zu unternehmen, „damit Menschenverachtung, Rassismus und Nazi-Propaganda erst gar nicht in die Köpfe und Herzen von Kindern einziehen“ (S. 147). Entscheidend bei alle dem sind für die Autorin das „Um-fair-teilen“, Steuergerechtigkeit für Kommunen, weil diese einen großen Teil der Kosten tragen, sowie die Erhöhung der Ausgaben für Bildung.
Ein erster Schritt in Richtung Postkapitalismus wäre eine gesellschaftliche Ausweitung der Gemeingüter, wie etwa genossenschaftlich organisierter Wohnraum oder freie Software des Wissens.
Damit es endlich zu einer EU-weiten solidarischen Lösung bei der Aufteilung der Flüchtenden kommt, müssten drei Prinzipien außer Streit stehen: Erstens handelt es sich hier um eine europäische Gemeinschaftsaufgabe, zweitens sollen die Flüchtenden das Recht haben, selbst zu entscheiden, in welchem Land sie vorübergehend Schutz suchen wollen, und drittens bestehen zwischen Nord-, Süd- und Osteuropa nicht die gleichen Voraussetzungen für die Aufnahme von Flüchtlingen. Um diesen Aspekten gerecht zu werden, muss ein Verteilungsschlüssel in Form einer Fluchtumlage geschaffen werden. Und schließlich träumt die Autorin vom „Ende des bisherigen EU-Grenzregimes“, von einem neuen „Staatsbürgerschaftsrecht, das allein den aktuellen Wohnort zugrunde legt“, sowie von EU-weiter Bewegungsfreiheit für alle Menschen, auch für Flüchtende. (S. 172)
Kipping, Katja: Wer flüchtet schon freiwillig. Die Verantwortung des Westens oder Warum sich unsere Gesellschaft neu erfinden muss. Frankfurt/M.: Westend-Verl., 2016. 202 S., € 16,- [D], 16,50 [A] ; ISBN 978-3-86489-133-5