Astrid Mattes

Migration und Religion

Ausgabe: 2023 | 4
Migration und Religion

Die Politik- und Religionswissenschaftlerin Astrid Mattes geht für die Buchreihe „Migration &“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften dem Fortschreiten der Politisierung von  Religion im Kontext von Migration nach. Mit ihrer Fragestellung bezieht sich die Autorin sowohl auf die enge Verwobenheit von Religion – insbesondere dem Islam – und Migration innerhalb der politischen Agenda wie auch der medialen Aufarbeitung gegenwärtiger Entwicklungen. Darüber hinaus konstatiert Mattes eine stark gestiegene Anzahl an Forschungsarbeiten, welche sich ebenfalls auffallend häufig um Abhandlungen im Kontext von Islam und Migration bewegen. „Zugespitzt könnte man also fragen, ob diese oft zitierte  ‚Rückkehr der Religionen‘ nun eigentlich mehr meint als eine ‚Ankunft des Islam‘“ (S. 17). Ergänzend gilt festzuhalten, dass es seit der letzten Volkszählung 2001 keine gesicherten Zahlen zur Religionslandschaft in Österreich mehr gibt. Dass die vielen wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema auf Schätzungen basieren und häufig mehrere Szenarien abbilden, bleibt im öffentlichen Diskurs zumeist unbeachtet, wie Mattes beanstandet.

Wenngleich die Autorin dem medial wie politisch gezeichneten Bild der Erstarkung des Islams in Bezug auf das rasche Wachstum der Religionsgemeinschaften teilweise recht gibt, warnt sie davor, aktuelle Entwicklungen beziehungsweise Spannungen ausschließlich als eine Folge von Migration zu interpretieren. „In der Debatte um Religion im Kontext von Migration werden aber all jene Fragen, die sich mit Blick auf historisch gewachsene Strukturen der Beziehung  von Religion und Staat generell stellen, überwiegend mit Blick auf den Islam und zugewanderte muslimische Personen gestellt. Dabei geht oft verloren, dass diese Strukturen nicht unbedingt nur durch Migration herausgefordert sind, sondern durch tiefgreifende Veränderungsprozesse, die auch die gesellschaftliche Bedeutung von Religion im Allgemeinen  betreffen“ (S. 21).

Neue politische Konfliktlinien

Basierend auf der Annahme, dass traditionelle inhaltliche Abgrenzungen zwischen den Großparteien, wie etwa Arbeit/Besitz, klerikale/säkuläre Politik oder auch Stadt/Land, die Einstellungen vieler Wähler:innen etwa seit den 1980er nicht mehr widerspiegeln, entwickelten sich neue Konfliktlinien wie Klimaschutz und Migration. Mattes zufolge wird Religion als Gruppenmarker verwendet, um klare Grenzen zwischen Fremd und Selbst zu ziehen und damit auch Wertefragen zu verknüpfen. Im Zuge dieser Verbindung kommt es zu einer paradox anmutenden Überschneidung zwischen Werten und Religion: So werden bestehende Wertvorstellungen im deutschsprachigen Raum als geprägt von christlichen und oftmals auch jüdischen Traditionen bezeichnet, wenngleich diese „sich in erster Linie in Auseinandersetzung und Abgrenzung von Religion entwickelt haben“ (S. 132).

Am Beispiel der Gastarbeiter:innen wird nochmals verdeutlicht, wie sehr sich Zuschreibungen und Abwertungen mit der Zeit verändern können. Die Autorin verweist auf eine Wiener Plakatkampagne aus 1970: „I haaß Koaric, du haaßt Kolarc, warum sogn’s zu dir Tschusch? (Demokratiezentrum Wien 2020)“ (S. 77).

Auch wird besonders häufig Muslim:innen in Österreich ein fehlendes Verständnis für Geschlechtergerechtigkeit vorgeworfen und anhand diverser Wertestudien untermauert. Wie bereits einleitend dargestellt, sind statistische Erhebungen im Kontext der Migrationsforschung kritisch zu hinterfragen. Ohne nun auf die im Buch ausgeführten Lücken einzugehen, lässt sich festhalten, dass es unabhängig von Religion oder Herkunft Faktoren gibt, welche konservative Einstellungen und die Schlechterstellung der Frau bestimmen: Je ausgeprägter die Religiosität allgemein ist und je niedriger der Bildungsgrad, desto eher dominieren patriarchale Wertvorstellungen, etwa, dass Mütter nicht erwerbstätig sein sollten. „Sehr deutlich hat sich gezeigt, dass Religion in Migrationskontexten vor allem auch eine Kategorie der Selbst- und Fremdzuschreibung ist“ (S. 170).

Blick auf Zukunftsperspektiven

Leser:innen nehmen neben historischen Einblicken und Verknüpfungen mit, dass Konflikte wie auch gesellschaftliche Veränderungen im Kontext von Migration nicht einfach mit Ursache-Wirkungs-Kausalitäten erklärt werden können. Vielmehr geht es um bestehende  Machtverhältnisse, wie auch strukturelle Gegebenheiten. Die Annahme einer homogenen  religiösen Gruppe ist jedenfalls weder für Katholik:innen noch Muslim:innen oder andere  tragfähig. Mit Blick auf Zukunftsperspektiven braucht es allen voran eine Festigung der  Pluralismusakzeptanz in Gesellschaften sowie eine Trennung von Integrations- und  Religionspolitik.