Hans Karl Peterlini, Jasmin Donlic

Jahrbuch Migration und Gesellschaft 2021/2022

Ausgabe: 2023 | 2
Jahrbuch Migration und Gesellschaft 2021/2022

Das Jahrbuch Migration und Gesellschaft 2021/2022 behandelt Familienforschung in Migrationsgesellschaften. Die im Sammelband vorgestellten Arbeiten zeigen, wie Betroffene aus ihrer passiven Rolle des zu Beschreibenden herausgeholt werden, um sie aktiv in die Forschung einzubinden:  „Im folgenden Beitrag findet deshalb eine Perspektiv-Verschiebung statt, welche die Erfahrungen und das Wissen der Migrationsfamilien in den Mittelpunkt rückt und sie als Expert*innen ihres Alltags betrachtet.“ (S. 111)

Zwischen Stereotypisierung und Lebenswirklichkeit

Die Migrationspädagogin Ursula Boos-Nünning stellt in ihrem Artikel „Zwischen Stereotypisierungen und Lebenswirklichkeit. Junge Frauen mit Migrationshintergrund in der Familie“ eine Diskrepanz zwischen Vorurteilen im Kontext der familiär ermöglichten Bildungschancen junger zugewanderter Frauen fest. Dass „Eltern mit Migrationshintergrund insbesondere türkischer und vietnamesischer Herkunft hohe Bildungsansprüche für ihre Kinder äußern, wird durch eine Vielzahl an Untersuchungen belegt, dass Leistungsorientierungen und Aufstiegswünsche bei der Erziehung der Kinder einen äußerst bedeutsamen Stellenwert einnehmen.“ (S. 37f.) Anstatt ungleiche Bildungszugänge mit familiären Konstruktionen zu begründen, sieht die Autorin am Beispiel Deutschland vielmehr strukturelle Diskriminierung als Auslöser. „Nach dem Schulabschluss bricht die bessere Bildungslaufbahn ab; sowohl im Vergleich mit den Jungen derselben Zugehörigkeit als auch mit einheimisch Deutschen können junge Frauen mit Migrationshintergrund seltener eine Ausbildung in einem attraktiven Berufsfeld aufnehmen.“ (S. 38) Doch nicht nur Vorurteile im Bildungskontext, auch geschlechterspezifische Rollenzuschreibungen innerhalb von Familien werden im Beitrag widerlegt: Nicht die Zugehörigkeit zu einer Religion begünstige eine konservative Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern, sondern „vielmehr bewirken das Aufwachsen in bildungsbenachteiligenden Milieus mit geringem Status unabhängig von der Religionszugehörigkeit traditionellere Einstellungen und stärker traditionell gelebte Geschlechterrollen.“ (S. 43)

Die beiden Autor:innen Tarek Badawia und Ayşe Uygun-Altunbaş haben für Ihre wissenschaftliche Auseinandersetzung deutschlandweit Jugendgruppenleiter:innen in Moscheegemeinden und religiösen Bildungseinrichtungen sowie Leiter:innen von Studierendengruppen befragt. Eine bedeutende Rolle in Bezug auf die Religiosität junger Menschen mit Migrationsgeschichte bzw. der zweiten Generation spielen digitale Medien. Der niederschwellige Zugang führe zu einer Art „Demokratisierung und Autonomiezuwachs unter den Jugendlichen“ (S. 77) was auch zu kritischem Hinterfragen autoritärer Meinungen innerhalb der Community führt: „sie geben sich nicht mehr mit einfachen Antworten zufrieden und suchen die Augenhöhe, wenn es um die Beantwortung ihrer Fragen und Zweifel geht“ (S. 77). Der Zugang zu schier unbegrenzten Informationen kann jedoch auch mit „Chaos, Eklektizismus, einer fehlenden Kontextualisierung (theologischen) Wissens und Lebensweltbezugs einhergehen“ (S. 78). Das Fazit des Textes verweist auf den Bedarf vertiefender Studien, insbesondere um zwei Faktoren näher zu untersuchen, welchen sie einen starken Einfluss auf die religiöse Orientierung junger Menschen muslimischen Glaubens zuschreiben: Antimuslimischer Rassismus und Gender-Debatten. Wie bereits von Boos-Nünning herausgearbeitet, sehen Badawia und Uygun-Altunbaş kaum Tendenzen, dass sich Jugendliche aufgrund der genannten Faktoren abschotten und sich in traditionelle Rollenbilder zurückziehen.

Transnationale Familienpraxen

Das Jahrbuch behandelt viele sehr aufschlussreiche Themen, wie etwa „Transnational Family Work in Refugee Migration“ oder „Behinderung und (forced) migration in Österreich“. Abschließend ist zudem noch das Thema der transnationalen Familienbeziehungen hervorzuheben, welches, wie auch bereits von Christina Schachtner im Buch „Global Age, Migration und Medien“ herausgearbeitet wurde, künftig an Relevanz gewinnen wird. „Die Thematisierung von Rassismus und migrationsbedingter familialer Trennung impliziert, auf gesellschaftliche Macht- und Ungleichheitsverhältnisse aufmerksam zu machen und gleichzeitig Sprech- und Handlungsräume zu eröffnen. Darüber hinaus muss es auch um die Sichtbarmachung von häufig verschwiegenen und tabuisierten Erfahrungen wie familiale Trennungen oder Rassismus in der Gesellschaft gehen, soll eine nachhaltige Veränderung in Gang gesetzt werden.“ (S. 119) Gelingt es Familien, mit Ausgrenzung und  Rassismus sowie temporären Trennungen umzugehen und neue „Möglichkeitsräume“ zu eröffnen, können sie Miriam Hill zufolge „mit Recht als WegbereiterInnen der Globalisierung betrachtet werden.“ (S. 119)