Die humanitäre Verantwortung Europas ist auch Thema bei Michael Richter. Der Regisseur und Dokumentarfilmer zeichnet den Weg der Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, Mali und Somalia über die Lager im Libanon und der Türkei bis zum Leben in den Flüchtlingsunterkünften nach. Aus der Beschäftigung mit der europäischen und der deutschen Flüchtlingspolitik sind zwei Filme entstanden: „Festung Europa“ für ARTE und „Riskante Reise“ für das ZDF. Viele Interviews, aus denen der Autor hier zitiert, sind bei den Recherchen und Dreharbeiten zu diesen Dokumentationen entstanden. Die Erlebnisse der Flüchtlinge zeigen die Strukturen und Allianzen auf, die es unmöglich machen, ohne Gefahr für Leib und Leben nach Europa zu gelangen. Berührend sind vor allem jene Passagen, in denen Richter persönliche Begegnungen erzählt. Darunter eine syrische Arztfamilie, die bei der Überfahrt nach Europa zwei Kinder verlor, als das völlig überfüllte Flüchtlingsboot kenterte. Diese Familie lebt heute in Deutschland.
Kann es, so der Autor, überhaupt eine Alternative zu unserer humanitären Verantwortung geben? Wer Asyl sucht, muss aufgenommen werden und das Recht auf ein faires Verfahren haben. Das zu gewährleisten ist für Michael Richter eine ebenso moralische wie gesetzliche Pflicht. Die aktuellen Methoden der Abschottung ignorieren eben diese Verantwortung. Das längst fällige Einwanderungsgesetz wäre ein wichtiger Schritt, damit Europa das wird, worauf die Flüchtlinge vertrauen: ein Fluchtpunkt.
Neben den Fluchtmotiven Betroffener erörtert Richter auch die Rolle der Grenzschutzagentur Frontex, die Probleme mit Schmugglern, die es nach Einschätzung des Autors nur gibt, „weil die EU alles tut, um sich abzuschotten“ (S. 55), das Konzept von „Eurosur“, als neues europäisches Überwachungssystem zur Bekämpfung irregulärer Einwanderung 2013 ins Leben gerufen, und ergänzt diese Befunde durch länderbezogene Analysen. Wir erinnern uns. Die Operation „Mare nostrum“ wurde nach der Berlusconi-Ära mit dem Ziel eingerichtet, Flüchtlinge aus Seenot zu retten. Dieser Ansatz scheint nicht im Sinne vieler EU-Staaten gewesen zu sein. „Triton“, die Nachfolgeoperation unter Leitung der Grenzschutzagentur „Frontex“ hatte die Aufgabe, den Flüchtlingen die Einreise nach Europa so schwer wie möglich zu machen.
Abschließend fragt Richter, was denn die nächsten Schritte sein könnten. Er schlägt vor, politische und ökonomische Werkzeuge zu entwickeln, „damit […] Reisen für Flüchtlinge so selten wie möglich nötig werden und im Notfall in größtmöglicher Sicherheit stattfinden“ (S. 197).
Eher skeptisch beurteilt der Rezensent den Vorschlag, in den Krisenländern demokratische Strukturen zu entwickeln, Schulen und Universitäten zu unterstützen sowie ökologisch fundierte Infrastrukturen zu fördern (vgl. S. 204). Es gibt genügend Beispiele, die belegen, dass das „Statebuilding“ – von Ausnahmen abgesehen – nicht funktioniert. Neben dem Vorschlag „Waffenexporte in Krisenregionen strikt zu untersagen“ (S. 204) sollte Deutschland Anlaufstellen für Arbeitssuchende im Ausland anbieten. Schließlich sollte ein neues Einwanderungsgesetz die derzeitige strikte Asylgesetzgebung entlasten. Auf längere Sicht richtig ist wohl auch, dass unsere alternde Gesellschaft „mehrere Hunderttausend junge Menschen jährlich [braucht], die unsere Sozialsysteme am Leben halten und Arbeitsplätze besetzen“ (S. 207). Bis allerdings die jungen Zuwanderer ausgebildet und am Arbeitsmarkt integriert sind, wird es noch einige Zeit dauern.
Richter, Michael: Fluchtpunkt Europa. Unsere humanitäre Verantwortung. Hamburg: ed. Körber-Stiftung, 2015. 241 S., € 16,- [D], 16,50 [A] ; ISBN 978-3-89684-172-8