„Für jeden Zentimeter, den der Meeresspiegel ansteigt, werden weltweit bis 2100 durchschnittlich 1,7 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben“ (S. 56). Die Umweltjournalistin und Autorin Gaia Vince plädiert in ihrem Buch „Das Nomadische Jahrhundert. Wie die Klima-Migration unsere Welt verändern wird“ für einen schnellen und pragmatischen Zugang zu einer Welt, welche sich unweigerlich im Wandel befindet: „Wir wissen heute schon, welche Bevölkerungsgruppen bis 2050 […] umsiedeln müssen. Und wir wissen auch, welche Orte Ende des 21. Jahrhunderts, wenn meine Kinder alt sein werden, am sichersten sein werden“ (S. 12). Die klimabedingten Veränderungen der Lebensräume betreffen dabei nicht nur den Globalen Süden, denn „Europa, mit seiner dicht bevölkerten 100 000 Kilometer langen Küste, wird ebenfalls betroffen sein“ (S. 57). Doch die Autorin verweist auf eine durch die Menschheit erprobte Lösung: Migration. Wanderbewegungen haben es den Menschen schon immer ermöglicht, Katastrophen und Konflikten zu entkommen und werden es auch weiterhin tun. In diesem Kontext verweist die Vince auch auf das Potenzial, welches Migrant:innen bergen: „Vergrößert man die Einwohnerschaft um 100 Prozent, nimmt die Innovation um 115 Prozent zu“ (S. 83).
(Mega-)Städte werden mehr Einfluss haben
„Die heute bestehenden rund 30 Megastädte werden bis 2050 wahrscheinlich zu Dutzenden von Megastädten verschmolzen sein, Regionen wie Hongkong-Shenzen-Guangzhou in China, wo mehr als 100 Millionen Menschen in einer scheinbar endlosen Stadt leben“ (S. 84). Wir erleben bereits jetzt, dass viele migrierende Menschen erst innerhalb eines Landes von den peripheren Regionen in Städte auswandern, um Arbeit zu finden und sich ein neues Leben aufzubauen. Aber auch länderübergreifende Migration hat vorrangig Städte zum Ziel. Doch was, wenn es nicht mehr nur darum geht, geflüchtete Menschen in Städte zu integrieren? „In Anbetracht der Tatsache, dass beträchtliche Bevölkerungsteile aus Ländern wie Bangladesch oder Vietnam in andere Länder einwandern und manchmal womöglich die einheimische Bevölkerung zahlenmäßig übertreffen werden, dürfen diese nicht einfach nur in die bestehenden politischen Strukturen der Gastländer integriert werden; sie müssen vielmehr eine eigene Vertretung erhalten“ (S. 182). Was zunächst stark an bestehende Ängste und Drohkulissen gegen Migration erinnert, ist bei näherer Betrachtung aber ein relevanter Punkt, wenn wir den künftigen Herausforderungen mit einem Handlungsplan begegnen möchten. So wird es etwa bis 2100 doppelt so viele Immigrant:innen wie im Land geborene Kanadier:innen geben. Damit ein gesellschaftliches Miteinander gelingen kann, braucht es folglich neue Lösungen: Sogenannte Satellitenstädte – in Anlehnung an das Modell der Charter-Cities vom Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Romer – könnten vom Herkunftsland der Migrant:innen aus regiert werden, wären aber auf gepachtetem oder gekauftem Land von Staaten, die ausreichend Platz sowie eine sichere Lage aufweisen. Angeführt werden hierfür etwa Kanada, Grönland oder Russland. Auch das ist keine neue Idee, der Kauf von großen Gebieten ist in der Geschichte Großbritanniens (Hongkong) sowie auch der USA (Alaska) bereits vorgekommen. Nichtsdestotrotz müssen auch die Sorgen, welche im Kontext von Massenmigration auftreten, ernstgenommen und Lösungen gefunden werden. So ist es etwa notwendig, ausreichend Infrastruktur für Schulen oder medizinische Versorgung einzuplanen, um Mangelsituationen und damit Konkurrenz zu verhindern. Zudem müssen Wege gefunden werden, um eine Sozialpolitik zu finanzieren, welche Ungleichheit verringert und ein menschenwürdiges Leben für alle garantieren kann.
Weit mehr als ein Sachbuch zum Thema Migration
Das besprochene Buch „Das nomadische Jahrhundert. Wie die Klima-Migration unsere Welt verändern wird“ ist weit mehr als ein Sachbuch zum Thema Migration. Der Autorin und Journalistin ist es gelungen, eine Brücke zwischen einem Buch zur Klimakrise und ihren Auswirkungen zur Migrationsthematik zu schlagen und dabei, anstatt in einen Alarmismus zu fallen, den eingangs eingeforderten pragmatischen Umgang mit kommenden Herausforderungen beizubehalten und Lösungen aufzuzeigen. Wie bereits erwähnt finden viele der dargestellten Lösungsansätze ihre Vorbilder in der Geschichte, gelegentlich fehlt in der Lektüre ein Verweis auf die negativen Aspekte ihrer Beispiele. Dennoch überzeugt das Buch durch Fakten sowie eine mutige Auseinandersetzung mit möglichen künftigen Entwicklungen in einer Welt im Fieber.