Annette Dufner

Welche Leben soll man retten?

Ausgabe: 2022 | 1
Welche Leben soll man retten?

Die Möglichkeit, Menschen in lebensbedrohlichen Situationen medizinisch rasch und effizient zu helfen, war noch nie so groß wie heute. Diese grundsätzlich erfreuliche Entwicklung hat aber auch ihre Schattenseiten, gilt es doch zu entscheiden, wie mit grundsätzlich knappen Ressourcen angemessen, d. h. verantwortungsvoll umzugehen ist. Dieser Frage widmet sich dieses Buch, das im Rahmen einer DFG-Kollegforschergruppe an der Universität Münster entstanden ist. In Anbetracht der Tatsache, dass nicht nur die Zuteilung von Medikamenten und Spenderorganen, sondern auch von Intensivbetten oder Beatmungsgeräten nachvollziehbar und gut begründet zu regeln ist, lässt sich die Relevanz und Aktualität des Themas ermessen.

Über moralische Überzeugungen

Einleitend erläutert die Autorin einige grundlegende moralische Überzeugungen im Kontext ihres Gegenstandes. So halten wir es für moralisch geboten, verfügbare Mittel möglichst effizient, also mit dem größtmöglichen Nutzen einzusetzen. Dabei gilt, „von einem übergeordneten Standpunkt aus, den Nutzen für die Gemeinschaft der Betroffenen insgesamt, die sogenannte ‚interpersonelle Aggregation‘, im Blick zu haben“. (S. 9f.). Einen weiteren zentralen Aspekt stellt die Forderung nach Chancengleichheit dar, und nicht zuletzt spielt auch die weitverbreitete Ansicht eine Rolle, „dass jemand, dem es schlechter geht als anderen, unter diesen Umständen einen gewichtigeren moralischen Anspruch auf unsere Hilfe hat“ (S. 10). Diese auf den ersten Blick selbstverständlichen Prämissen erweisen sich bei näherer Betrachtung vielfach als unvereinbar bzw. müssen in Relation zueinander gesetzt werden. Die Abwägung eines überindividuell verstandenen Effizienzgebots einerseits, und der Gewährung von Chancengleichheit andererseits wird beispielsweise als „David-Fall“ diskutiert, wonach etwa zu entscheiden ist, ob ein begrenzt verfügbares Medikament zur Gänze an besagten David verabreicht werden soll, der nur mit der vollen Dosis wirkungsvoll behandelt werden könnte, oder an fünf Personen, die mit jeweils einem Fünftel der verfügbaren Dosis auskommen würden. Kapitel 1 macht derartige „Personenzahlvergleiche in Konfliktfällen“ zum Thema und schließt mit einer begründeten Empfehlung zur Rettung der größeren Anzahl von Menschen. Kapitel 1 macht derartige „Personenzahlvergleiche in Konfliktfällen“ zum Thema und schließt mit einer begründeten Empfehlung zur Rettung der größeren Anzahl von Menschen.

Darüber hinaus spielen aber auch „Nutzenvergleiche“ (Kapitel 2) und „Niveauvergleiche“ (Kapitel 3) eine entscheidende Rolle. In der erstgenannten Kategorie steht exemplarisch zur Diskussion, ob es vorrangig gilt, „einen Tod oder viele Kopfschmerzen zu verhindern“ (S. 69ff.). In diesem Zusammenhang werden Aspekte wie Wertepluralismus, Ergebnisgleichheit als Nutzenbestandteil und auch die Frage diskutiert, ob vergleichsweise irrelevante Hilfsansprüche – ein wichtiger Aspekt auch im Kontext der aktuellen Pandemie – zurückzustellen sind. Im Hinblick auf Niveauvergleiche hingegen gilt es zu beurteilen, welchen Patient:innen, den akut belasteten oder den weniger erkrankten das nur begrenzt verfügbare Medikament oder die nächstmögliche personelle Zuwendung zugedacht werden soll. In Zusammenfassung des ersten Abschnitts zur „moralischen Aggregation“ wird die sogenannte „ARP-Regel“ erläutert und umfassend diskutiert, die lautet: „Befördere das aggregierte Gute in Konfliktfällen zwischen relevanten Interessen auf prioritaristische Art und Weise“ (S. 118).

Organverteilung in Deutschland

Im zweiten Teil dieser Abhandlungen wird erörtert, inwieweit die Rahmenbedingungen und Praxis der Organverteilung in Deutschland mit der zuvor diskutierten Theorie der Verteilungsgerechtigkeit korrelieren. Mit Blick auf das aktuelle Transplantationsgesetz (TPG) sind neben der Aussicht auf eine erfolgreiche Organspende der Zusammenhang von Maximierung von Lebenszeit und Lebensqualität, die Effizienz im Sinne „einer Rettung der größeren Anzahl“ sowie die Dringlichkeit der anstehenden Maßnahmen abzuwägen. „Zusammenfassend […] lässt sich sagen, dass es nicht nur ein Effizienzkriterium gibt, genau wie es auch verschiedene Teilbedeutungen des Kriteriums der Dringlichkeit zu geben scheint.“ (S. 158). Konkretisiert wird diese Feststellung im Verlauf der nächsten beiden Kapitel, wobei zunächst Herausforderungen in Zusammenhang mit einerseits multiplem und andererseits wiederholtem Organbedarf erörtert wird.

In Anbetracht der Tatsache, dass medizinische Maßnahmen mit mutmaßlich minimalem Nutzen vielfach kritisch gesehen werden, widmet sich Kapitel 7 schließlich der Frage, inwieweit Lebertransplantationen selbst bei geringen Erfolgsaussichten vertretbar sind. Diskutiert werden u. a. das aktuelle Verteilungsverfahren und die damit verbundenen Aussichten auf eine rechtzeitige Transplantation, aber auch grundsätzliche Schwierigkeiten im Hinblick auf Nutzenschwellen. Wie sind Lebensdauer und Lebensqualität von Patient:innen in Relation zu setzen? Unter welchen Bedingungen ist eine Operation noch vertretbar? Erörtert wird folgerichtig auch die Option der Effizienzsteigerung durch Umverteilung.

Schlechtergestelltsein vs. Dringlichkeit

Im abschließenden Kapitel diskutiert Dufner den Zusammenhang von „Schlechtergestelltsein und Dringlichkeit“. Welche Eigenschaften müssen Patient:innen aufweisen, um im Kontext der Organtransplantation als „schlechtergestellt“ zu gelten (vgl. S. 198)? Welche Aspekte von Dringlichkeit gilt es zu berücksichtigen (akute Sterbegefahr, schwere Schäden, anhaltende geringere Lebensqualität)? „Eine plausible Interpretation von Dringlichkeit sollte nicht nur die Enge des Zeitfensters für eine mögliche Intervention berücksichtigen, sondern außerdem auch noch die Größe des abwendbaren Schadens.“ (S. 214)

Zusammenfassend plädiert die Autorin für die „Akzeptanz von wertenden Urteilen in einem streng und klar begrenzten Umfang“ (S. 217). In einem Appendix wird auch die Problematik der Verteilung von Beatmungsgeräten in einer Pandemie (Triage) thematisiert. Welchen Patient:innen in welchem Alter soll unter Berücksichtigung ihrer Vorerkrankungen der Vorzug einer Akutbehandlung eingeräumt werden? Nicht zuletzt gilt es zu bedenken – so der letzte Satz dieser anspruchsvollen Untersuchung –, „dass die Intensivmedizin bekanntlich nicht nur das Leben verlängert, sondern – sofern man nicht anders entscheidet – auch das Sterben“.