Armin Nassehi

Unbehagen

Ausgabe: 2022 | 1
Unbehagen

Unbehagen und Überforderung in der Moderne sind geläufige Topoi, um nicht zu sagen Klischees der Gesellschaftsdiagnose. Wenn Armin Nassehi nun gleich beide Begriffe auf die Titelseite seines neuen Buches schreibt und sie damit zu den zentralen Bezugspunkten seiner Gesellschaftstheorie macht, tut er das freilich nicht ohne Hintergedanken. Listig bemächtigt sich der Münchner Soziologieprofessor der beiden eingeführten und fest in einer kultur- und zivilisationskritischen Denktradition verwurzelten Begriffe, um sie zu drehen und für seinen eigenen theoretischen Ansatz nutzbar zu machen.

Das Unbehagen an und in der Moderne ebenso wie die Überforderung in der modernen Gesellschaft beziehen sich fast immer auf die soziale Dimension, so Nassehis Diagnose. Ein großer Teil der soziologischen Selbstbeobachtung der Gesellschaft sei „nach den Sinnverarbeitungsregeln der Sozialdimension gebaut, vernachlässigt aber die Sachdimension“ (S. 28). Im Blick steht stets das Individuum, sein Bezug zur Gesellschaft und zu deren Strukturen. Nassehi dreht nun diese Denkrichtung um. Ihm geht es „nicht nur um die Überforderung von handelnden Personen, von Individuen, von Menschen in einer bestehenden Gesellschaft“, sondern „auch und vor allem um eine Überforderung gesellschaftlicher Handlungs-, Reaktions- und Gestaltungsmöglichkeiten“, die damit zu tun hat, „dass die Strukturen und die Form der Gesellschaft sich selbst überfordern“ (S. 18).

Die Komplexität der Gesellschaft

Diese Umkehrung der Denkrichtung ermöglicht es nun, die Komplexität der Gesellschaft selbst in den Blick zu nehmen, statt sie nur als Auslöser und Ursache von Unbehagen und Überforderung zu beschreiben. Und sie verlagert den Fokus hin zur Sachebene – und auf theoretischer Ebene zur Systemtheorie. Das bedeutet: Funktionale Differenzierung, also die Ausbildung von Funktions- oder Subsystemen wie Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft ist Grundlage der Leistungsfähigkeit der modernen Gesellschaft, bringt diese gleichzeitig aber „an die Grenzen ihrer eigenen Verarbeitungskapazität“ (S. 18). Weil irgendwann die Eigenlogik der Bereiche eigenmächtig wird und die Lösung übergreifender Probleme erschwert bis unmöglich macht. Stichwort Silostrukturen. Beispiele: die Klimakrise und die Coronakrise, die beiden Referenzkrisen im Buch.

Das klingt alles sehr theoretisch, ist aber an einer brandaktuellen Ausgangsfrage aufgehängt, die unmittelbar der Lebenswirklichkeit der Menschen – hier: von Nassehis Studierenden – entnommen ist: Die Frage, warum es trotz allen Wissens und trotz aller möglichen Einsicht nicht gelingt, die Probleme der Welt zu lösen, bildet das mehrfach wiederholte Leitmotiv des Buches. Auch das ein Kunstgriff. Ein beliebter Vorwurf an die Systemtheorie lautet, sie würde gewissermaßen so weit über den Wolken fliegen, dass sie die soziale Wirklichkeit nicht mehr in den Blick bekommt. Nassehi baut dem nun vor, indem er reale Sorgen realer Akteure zum Ausgangs- und Bezugspunkt seiner Überlegungen macht. Er stellt aber zugleich klar: Aus dieser Überforderung gibt es kein Entrinnen. Die wenig beruhigende Diagnose lautet, dass die Gesellschaft sich offensichtlich in einem permanenten Krisenzustand befindet, schon weil es einen nicht-krisenhaften Zustand nicht (mehr) gibt. Der oft gehörte Appell, nun endlich rauszukommen aus dem ewigen Krisenmodus, führt somit in die Irre.

Überforderung als Problem und Lösung

Wie aber kann nun eine Gesellschaft diese Dilemmasituation auflösen? Nassehis Antwort: Die Überforderung ist Problem und Lösung zugleich. Sie kann die Basis für Lösungsperspektiven sein.

Doch wie? Hier gewinnt nun der sperrige soziologische Begriff der „Anschlussfähigkeit“ konkrete Gestalt. Dies meint, dass an eine Kommunikation oder Handlung eine weitere Kommunikation oder Handlung anschließen kann – sprich: dass ein anderer damit etwas anfangen und damit weiterarbeiten kann. Gefragt sind also „Arrangements zwischen den unterschiedlichen Funktionslogiken“, die Handlungsfähigkeit herstellen und Zielkonflikte bearbeitbar machen (S. 315). Zum Beispiel, indem man Leute und Logiken zusammenbringt, die üblicherweise nicht zusammenkommen. Oder Lernprozesse durch Rekombination ermöglicht. Das ist getragen von der theoretisch geleiteten Zuversicht, dass eine Gesellschaft, die in ihrer funktionalen Differenzierung ihre Komplexität steigert, ihr Komplexitätsniveau nochmals zu erhöhen vermag, um die mit ihrer Ausdifferenzierung gewachsenen Probleme in den Griff zu bekommen.

In eine unerwartete Richtung zielt auch die Überlegung des Autors für einen Ausweg aus der Klimakrise. Möglicherweise, schreibt Nassehi, sei eine Verhaltensänderung durch Konsum leichter zu erreichen als durch Aufklärung – und hat dabei wohl die zahllosen Start-ups, Unternehmen, Biolandwirte, Köche, Gastronomen, Lebensmittelretter et cetera im Blick, die genau daran arbeiten: an einer nachhaltigen Veränderung des Konsums.