Jenny Odell

Nichts tun

Ausgabe: 2021 | 3
Nichts tun

Nichts tun klingt zunächst ziemlich entspannend, wie wir aber im Verlauf der Lesereise durch Jenny Odells Gedanken herausfinden, hat es nicht selten auch etwas mit Disziplin, Mut und Widerstand zu tun. Es geht bei weitem nicht um einen Zustand von Faulheit, sondern um einen Gegenentwurf zur Aufmerksamkeitsökonomie. Diese kann man sich dabei wie Autobahnen vorstellen, auf denen wir alle einzeln fahren, ohne einander großartig zu beeinflussen oder zu berühren. Hier ist immer klar, was wichtig ist und welche Dinge Aufmerksamkeit verdienen. Filterblasen, Algorithmen und allgemein anerkannte Lebensziele in Beruf und Freizeit schützen uns vor Überraschungen. Sie sorgen allerdings auch dafür, dass ein Wandel eher ausgeschlossen ist und wir uns in „sozialen Monokulturen“ (S. 194) verstetigen. Die unbefreite Aufmerksamkeit der Ökonomie hat ein enges Sichtfeld – Vorurteile oder Voreinstellung könnte man es nennen – vieles zieht in der Peripherie vorbei und wird kaum verarbeitet oder sofort bestimmten Kategorien zugeordnet. Entstanden ist dieser Zustand laut Odell aufgrund der menschlichen Dominanz in dieser Welt, welche uns zunächst von der Natur und schließlich auch von uns selbst entfernt hat: „Wir haben uns selbst ein Bein gestellt, indem wir dachten, wir könnten von diesem Leben unabhängig existieren, aber das ist physisch unmöglich und überdies in manch anderer Hinsicht armselig.“ (S. 205)

Die Rückgewinnung der Kontrolle

Nichts tun hat nach Odell demnach mit der Rückgewinnung der Kontrolle über die eigene Aufmerksamkeit zu tun, mit dem Ausstieg aus dem Dogma, dass „etwas tun“ nur im Sinne der Produktivität möglich ist. Damit sich Räume und auch Zeit zu schaffen, um den Blick und die Gedanken schweifen lassen zu können. Räume in denen ökonomische Prinzipien nur einige von vielen sind und das „höher, schneller, weiter“ der kapitalistischen Realität dem „was und wer ist um mich“ weicht. Der Abstand zum vermeintlich „Normalen“ kann dessen Absurdität vor Augen führen. Bereits Diogenes sagte, dass vermeintlich geistig gesunde Menschen die eigentlich Irren waren, da sie eine Welt voller Habgier, Korruption und Dummheit aufrechterhielten. Doch das kapitalistische System ist unglaublich potent, wenn es darum geht, sich die Kritik am System quasi einzuverleiben und sich dadurch neu zu erfinden. Die Erfindung des Digital Detox im Silicon Valley ist ein aktuelles Beispiel dafür: Entstanden aus dem Bedürfnis, dem ewigen Verwertbarkeitskreislauf etwas entgegenzusetzen, ist es inzwischen wieder in genau diesem Kreislauf angekommen: Als kommodifizierte Leistung, Wellness oder Firmenevent. Sich selbst in freier Aufmerksamkeit zu üben ist demnach eine kontinuierliche Aufgabe, denn die Gefahr, dass der Widerstand immer wieder im System aufgeht, ist omnipräsent.

In der Welt der Produktivität

Odell zeigt uns mit zahlreichen Ausflügen in die Philosophie, Kunst und Wissenschaft immer wieder, mit welchen Methoden Menschen schon immer versucht haben sich in der Welt der Produktivität wiederzufinden. Die Beispiele werden von allen Seiten beleuchtet und zeigen damit Stärken und Schwächen der Ansätze. Daraus zieht sie einen modernen, sich der Welt nicht entziehenden Entwurf, um das heute und mit heutigen Mitteln zu erreichen. Immer präsent bleibt dabei, dass es sich vor allem um einen professionell ergänzten Erfahrungsbericht handelt. Wir begleiten Odell auf Spaziergängen und Ausflügen in Stadt und Natur, in denen sie den Wert dessen deutlich macht, was sie im Hier und Jetzt leben nennt. Sie tut mit diesem Buch genau das, wovon sie uns auch erzählt: Sie leitet unsere Aufmerksamkeit nur wenig, überall bleibt genug Raum, um abzuschweifen, den zahlreichen Beispielen oder eigenen Gedanken nachzugehen, sie wahrzunehmen und für sich zu reflektieren. Will man beim Lesen vorankommen, ist das vielleicht störend. Aber wer nur das bei diesem Buch versucht, hat dessen Botschaft auch noch nicht verstanden.

Wenn Metriken und Algorithmen unser Tun, Denken und schließlich auch unsere Ziele bestimmen, indem sie unsere Aufmerksamkeit formen, so hat das weitreichende Folgen für die Willensbildung. Wie sich das weltlich und politisch auswirkt, kann beispielsweise an Radikalisierungen, Naturzerstörung, Diskriminierung oder der drastisch steigenden Zahl psychischer Überlastung abgelesen werden. Kein Wunder, so ist doch Erschöpfung zu einem Statussymbol für Fleiß geworden. Die gute Nachricht ist, dass das auch von der anderen Seite her funktioniert: „Wenn dein Aufmerksamkeitsmuster sich verändert, dann erschaffst du deine Realität anders. Du beginnst, dich in einer anderen Art von Welt zu bewegen und zu handeln“ (S. 173). Öffnen wir uns also wieder und trauen uns die Aufmerksamkeitsautobahnen des Kapitalismus zu verlassen, so kann das eine sehr ermächtigende Wirkung haben und den Lauf der Dinge durchaus verändern. Ein im besten Sinne inspirierendes Buch, das sich ganz authentisch keinem Genre zuordnen will.