Verlust der Empathie, Politik der Gleichgültigkeit

Ausgabe: 1998 | 1

"Das, was in unserer Zivilisation auf der Tagesordnung steht kann nur entschärft oder verbannt werden durch eine Kindererziehung, die dem Liebevollen eine Chance gibt." Diese zentrale Botschaft des deutschamerikanischen Psychologen und Therapeuten Arno Gruen in seiner "Geschichte des Mitgefühls" zeigt an. wie dieser Begriff hier verstanden werden will: als Empathie. Einfühlung, als Fähigkeit den anderen in seiner Würde und mit seinen Gefühlen vorbehaltlos wahrzunehmen und zu respektieren.

Für Gruen ist die westliche Zivilisation geprägt von der "Unterdrückung und Verzerrung" des Mitgefühls. Ihre Gewalttätigkeit gehe zurück auf die Spaltung der Persönlichkeit in verdrängtes Leid im Kern und angepaßte Äußerlichkeit. Das Kind, in unserer Gesellschaft oft in seinen Gefühlen nicht als vollwertig angesehen, erfährt durch Mangel an authentischer Zuwendung eine tiefe Hilflosigkeit, aus der nur die Identifikation mit den Eltern, die gleichzeitig der Ursprung seines Leidens sind, einen Ausweg bieten.

Die "Identifikation mit dem Aggressor" ist eine häufig gewählte Strategie. mit der in späteren Lebensjahren der eigene Schmerz gebannt und Schwäche bekämpft wird. Identifikation mit der "Macht und ihren Symbolen" bildet schließlich das Grundmuster. auf dem unser Gesellschaftssystem im allgemeinen, deutlicher noch autoritäre Organisationen oder totalitäre Regime aufgebaut sind. Moral verkommt in solchen Zusammenhängen zur " Pose", zur leidlich eingeübten Rolle. deren Erfüllung Legitimation verleiht. Moralität und Gemeinschaft haben ihre Grundlage in der Fähigkeit zur Empathie (und nicht im Verstand). also dort, wo Menschen den Zugang zu ihrem emotionalen "wahren Kern" bewahrt haben oder wiederfinden.

”Hoffnungsträger der Menschheit" sieht Gruen in den Überlebenden der Konzentrationslager und in psychisch Kranken, den Schizophren. Die KZ-Überlebenden bewahrten unter den Demütigungen der Peiniger ihre Würde und die Fähigkeit zu Mitgefühl und machen so in der Überwindung der Extremsituation den Kern des Menschseins sichtbar. Die Schizophrenen hingegen halten diesen Kern, der in jedem Kind grundgelegt ist, in sich eingeschlossen. Ihnen selbst noch verschlossen kann dieser jedoch mit der Begleitung des Therapeuten zur Entfaltung gebracht werden. Das vereinzelt eingeflochtene historische Material vermittelt zusammen mit ethnologischen Bezügen auf die sogenannten "primitiven" Gesellschaften - in den meisten Fällen die "utopische" Referenz - und den zahlreichen Beispielen aus der psychotherapeutischen Praxis beachtliche Anschaulichkeit.

A. G.


Gruen, Arno: Der Verlust des Mitgefühls. Über die Politik der Gleichgültigkeit München: Dt TB-Verl., 1997. 295 S. (dialog & praxis; 3514) DM 19,80/ sFr 19,- / öS 145,-