Donatella Di Cesare

Souveränes Virus?

Ausgabe: 2021 | 2
Souveränes Virus?

In unserer Gesellschaft seien wir nur scheinbar frei und souverän, sagt die italienische Philosophin Donatella Di Cesare. Bei genauerem Hinsehen führe der Imperativ des Wachstums, die Pflicht zur Produktion und die Obsession des Ertrages dazu, dass Freiheit und Zwang schließlich hinter unserem Rücken eine Einheit bilden. „Wir leben in einer zwanghaften Freiheit oder einem freien Zwang.“ (S. 24) Der kapitalistische Realismus habe darüber hinaus jeden auf Vorstellungskraft beruhenden Widerstand erstickt, indem er dieses System als den letzten Horizont verkaufe. „Verantwortungslosigkeit, das heißt das Fehlen einer an die zukünftigen Generationen gerichteten Antwort, scheint ihren eigentümlichen Zug auszumachen.“ (S. 20)

Diese Perspektivlosigkeit wird vor dem Hintergrund drei großer Ereignisse des 21. Jahrhunderts diagnostiziert: die Terroranschläge vom 11. September 2001, dann die Finanz- und Kreditkrise von 2008, außerdem der Gesundheitskrise durch Covid-19. Vor allem bei letzterer lasse sich das Debakel der Politik mit Händen greifen.  Unsere Gesellschaft schreite von Notfall zu Notfall. (S. 20)

Di Cesare macht einige Beobachtungen: Da wäre zum einen die Kapitulation der Politik. Es sei ein schwerwiegender Vorgang, wenn die Politik ganz offen zu Gunsten der Wissenschaft abdanke. Dem Diktat der Ökonomie unterworfen und auf verwaltende Governance reduziert, verfüge die Politik ohnehin nur mehr über einen geringen Spielraum, den sie jetzt vollkommen einzubüßen drohe. Die Autorin fordert, dass sie sich nicht darauf beschränken dürfe, die Weisungen von Expertinnen und Experten auszuführen, als wäre sie nichts anderes als Verwaltung, deren Ideal die Neutralität ist und die im Grunde keine Ideale mehr kenne. Es scheint als wäre das reibungslose Funktionieren bereits ein Wert an sich, unabhängig von jeglichem Inhalt. (S. 55)

Di Cesare reflektiert in dem Buch häufig über Abgrenzungen, mit denen wir versuchen, uns zu immunisieren. Sie zeigt, dass die Abgrenzung, die wir in Flüchtlingsfragen erleben, genau so wenig funktioniert wie die Abgrenzung von den anderen in der Gesundheitskrise. „Es wird vonnöten sein, mit diesem Virus – und   vielleicht auch mit anderen – zusammen zu wohnen. Das aber bedeutet ein Zusammenwohnen mit dem Rest des Lebens in komplexen Umwelten, die sich überlagern, kreuzen und begegnen, im Zeichen einer neu entdeckten und artikulierten gemeinsamen Verletzlichkeit.“ (S. 114f.)