Michael von Brück

Interkulturelles Ökologisches Manifest

Online Special
Interkulturelles Ökologisches Manifest

In dem schmalen Band stellt der emeritierte Professor für Religionswissenschaft der Universität München, evangelische Pfarrer und Yoga- und Zenlehrer die Frage, ob angesichts der Notwendigkeit einer sozial-ökologischen Transformation im Kontext der modernen, säkularen Gesellschaften religiöse Impulse zur kulturellen Erneuerung beitragen können. „Kann Religion zu einer Kraft für die Transformation unseres Lebensstils werden, der auf dem Prinzip ökologischer Nachhaltigkeit beruhen würde?“ (S. 18) Er unterstreicht die Bedeutung von „großen Erzählungen“ für die individuelle und kollektive Willensbildung – seien es Utopien, Hoffnungs- oder Untergangsszenarien. Entgegen des Befunds der Theoretiker der Postmoderne, v. a. Jean-François Lyotard, von einem Ende der großen Erzählungen hält Brück fest, dass die Religionen „einer der wesentlichen Akteure in diesem Szenario bis heute“ seien (S. 35). Den Hintergrund und konkreten „Sitz im Leben“ bildet die Gründung der „University for Life and Peace“ in Myanmar auf Initiative des Zenmeisters Hsin Tao, die Ökologie, buddhistische Spiritualität und Wissenschaft verbindet. Brück ist als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats in führender Rolle in das Projekt involviert, das 2019 seine erste „Winter School“ durchführte und dessen weitere Umsetzung durch den Militärputsch in Myanmar Anfang Februar 2021 derzeit nicht gesichert ist.

Die Struktur des Buches orientiert sich am medizinischen Modell, wie es der Buddha angewendet hat: Diagnose (Kap.2), die mit drei Seiten kurz ausfällt, Möglichkeit der Therapie (Kap. 3), Rahmen der Therapie (Kap. 4), die möglichen Therapiemodelle (Kap. 5) – mit rund 70 Seiten das längste Kapitel – und abschließend elf konkrete Therapievorschläge. Im Kapitel 5 vergleicht der deutsche Religionswissenschaftler, der sich mehrere Jahre im Rahmen von Gastprofessuren in Asien aufgehalten hat, die europäische und die asiatische Weltsicht. Für die europäische Erfahrung stehe vor allem der Fortschrittsmythos, der in der christlichen Vorstellung eines in der Geschichte handelnden Gottes begründet sei, und die Welt als „Dynamik von Möglichkeiten“, für die der Mensch Verantwortung trage. Für die asiatische Erfahrung führt Brück vor allem das buddhistische Prinzip des „Entstehens der Erscheinungen in gegenseitiger Abhängigkeit“ an; es stelle sich die Frage, wie es als kulturelle Ressource für die Nachhaltigkeitstransformation aktiviert werden könne. Als Meditationslehrer vertritt Brück einen spezifisch spirituellen Zugang: Spiritualität sei die Entdeckung der menschlichen Möglichkeit „zu einer transtemporalen und alles umfassenden Einheitserfahrung“ (48). Für den nötigen Bewusstseinswandel seien solche transformativen spirituellen Erfahrungen notwendig.

Über individuelle und kollektive Interessen

Bezogen auf China und den Konfuzianismus erwähnt der Autor die Eingliederung des Individuums in das Kollektiv und fügt an: Es wäre unzureichend, dieses kulturelle System „nur als Zwangsregelung zu interpretieren“ (S. 97), da es auf dem „Lebensgefühl der universalen Harmonik“ beruhe. In China sei es ein Zeichen gelingender Herrschaft, Individuen und kollektives Interesse in Einklang zu bringen. Brück fährt fort: „Und es wird nicht als ein Zwangssystem empfunden, sondern als die notwendige Folge von Einsicht und Erfahrung.“ (S. 98) Es fragt sich, wie eine solche pauschale Aussage von den Opfern von Menschenrechtsverletzungen in China (etwa den muslimischen Uiguren), von den politischen Dissidenten und chinesischen Menschenrechtsanwälten gelesen würde, wenn sie mit dieser konfrontiert wären. Das interkulturelle Verständnis für das konfuzianische System universaler Harmonik müsste ergänzt werden durch die Kritik seines politischen Missbrauchs, seine Instrumentalisierung durch die kommunistische Einparteiendiktatur. An dieser Stelle müsste man sich entscheiden zwischen Kulturrelativismus und dem Universalitätsanspruch des „normativen Projekts“ (Heinrich August Winkler) des Westens, das vor allem die Menschenrechte und den Verfassungsstaat umfasst. Als Leser vermisst man hier angesichts der Bedeutung des globalen Aufstiegs Chinas eine kritische Reflexion dieser Fragen, etwa anhand der Auseinandersetzung mit Positionierungen der zeitgenössischen chinesischen Philosophie, z. B. mit dem Buch Alles unter dem Himmel von Zhao Tingyang, das 2020 auf Deutsch erschienen ist.

Wo religiöse Ressourcen genutzt werden könnten

Abschließend erörtert Brück elf konkrete Felder, in denen religiöse Ressourcen genutzt werden könnten, vor allem in Form der Entwicklung neuer Menschheits-Rituale wie z. B. eines regelmäßigen „Tags der ökologischen Achtsamkeit“. Weitere Vorschläge sind die Verstärkung der Kreislaufwirtschaft, von postkonventionellen Formen des gemeinschaftlichen Lebens, der öffentlich-rechtlichen Medien zugunsten der Nachhaltigkeitstransformation oder die Einrichtung eines internationalen Umweltgerichtshofs. Wichtig ist u. a. Brücks grundsätzliche Überlegung, dass die Transformation der Lebensformen in Richtung Nachhaltigkeit nicht unter den negativen Vorzeichen von Entbehrung, Dürftigkeit, Einschränkung, Verarmung, Einbußen gelingen wird: „Die Entwicklung transformierter Lebensformen, die eine kulturelle Erneuerung des Denkens und der Emotionsgestaltung voraussetzen, ist nicht als Bürde und Last zu inszenieren, sondern als schöpferische Freude und Gestaltungskraft, die menschliche Motivationen überhaupt erst erzeugt.“ (S. 34)

Gleichzeitig macht diese Passage das Defizit des Ansatzes deutlich, der den Fokus auf die Lebensstiländerungen der Einzelnen richtet, aber den grundlegenden Transformationsbedarf der Strukturen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, v. a. der gegenwärtigen neoliberal entfesselten Finanzwirtschaft, zu wenig beleuchtet. Der renommierte US-Klimaforschers Michael Mann („Propagandaschlacht um das Klima: Wie wir die Anstifter klimapolitischer Untätigkeit besiegen“, März 2021) etwa bezeichnet diese Verschiebung des Fokus auf das individuelle Verhalten als Ablenkungsmanöver, als Taktik, die den Druck von der Politik nehmen soll, transformative strukturelle Reformen auf gesetzlichem Weg durchzusetzen.

Das Buch nennt sich „Manifest“ und setzt auf die charismatische Stimme des einzelnen Denkers. Eine solche Textgattung bildet per se eine Alternative zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit der relevanten Literatur, den vielstimmigen zeitgenössischen Diskursen zu den Themen des Buches (u. a. im Bereich Postwachstums-Wirtschaft) oder mit zentralen gegenwärtigen globalen Initiativen zugunsten einer sozial-ökologischen Wende - die „Agenda 2030“ mit den 17 Zielen nachhaltiger Entwicklung wird etwa im Buch an keiner Stelle genannt. Das „Interkulturelle Ökologische Manifest“ ist in der Hinsicht das Gegenstück zu einem Buch wie „Christliche Umweltethik“ (2021) des Münchner Sozialethikers Markus Vogt.