Cédric Hugrée, Étienne Penissat, Alexis Spire

Social Class in Europe

Ausgabe: 2021 | 1
Social Class in Europe

Bereits 2017 erschien Les Classes sociales en Europe der französischen Soziologen Cédric Hugrée, Etienne Penissat und Alexis Spire. Jetzt liegt die englische Übersetzung vor, die zugleich eine Reihe von Aktualisierungen enthält. Die Autoren weisen darin mit Hilfe von Daten von Eurobarometer, der World Value Survey und zahlreichen anderen europäischen Umfragen nach, dass soziale Klassen in Europa mitnichten der Vergangenheit angehören bzw. dass diese sich sogar zunehmend stärker ausprägen und zu neuen Ungleichheiten führen. Wurden die Brüche zwischen den Klassen lange übersehen, zeigen der Brexit und die Gelbwesten-Proteste in Frankreich, dass das Versprechen eines besseren Lebens in einem gemeinsamen Europa zumindest für die Arbeiter- und untere Mittelklasse gebrochen wurde. Drei relevante Klassen haben Hugrée, Penissat und Spire identifiziert: die Arbeiterklasse, die Mittelklasse und die dominante Klasse.

Drei soziale Klassen im Vergleich

Was die Arbeiterklasse anbelangt (43 Prozent aller Werktätigen; hauptsächlich niedrig- und unqualifizierte Angestellte), so ist sie die große Verliererin des innereuropäischen Wettbewerbs. Der Abbau von Grenzen brachte europäische Arbeitende zunehmend in Konkurrenz untereinander: „Differentiations within social structures were exacerbated by increased competition between workers. The working class was caught in a vice on both sides of the continent: on one side, those in the countries of the East and the South are forced to accept low wages or even to emigrate to find work; on the other, those in the North and West face company relocations and have to accept wage restraint and job flexibility in order to keep hold of the jobs that remain.“ (S. 22f.) Deregulierungen im Arbeitsrecht verschlechtern die Lage weiter, sowohl was soziale Sicherheiten, Arbeitsbedingungen wie auch Gehälter anbelangt. Vor allem im Osten Europas sind viele aus der Arbeiterklasse von Armut betroffen.

Die Mittelklasse (38 Prozent der Werktätigen; vor allem Selbstständige, Lehrkräfte, Pflegepersonal, Beamtinnen und Beamten) ist eine heterogene Klasse, auch was das Selbstbild anbelangt. Im Gegensatz zur Arbeiterklasse sind ihre Arbeitsbedingungen besser und Jobs stabiler. Signifikant ist der Unterschied im Lebensstandard zwischen Angehörigen der Mittelklasse im Westen und im Osten Europas. Zudem erfährt die Mittelklasse gerade, dass Bildung nicht automatisch Aufstiegsmöglichkeiten mit sich bringt bzw. verbreitet sich die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen in der Mittelklasse immer stärker. Auch der Druck steigt: Meistens arbeitet die Mittelklasse unter ständiger Beobachtung von Kundinnen und Kunden sowie Vorgesetzten.

Die oberste der drei sozialen Klassen wird von den Autoren als die „dominante Klasse“ bezeichnet (19 Prozent der Werktätigen; vor allem Eliten aus dem Forschungs-, Technik-, Medizin- und Managementbereich). Diese dominante Klasse legt die Arbeitsbedingungen der Mittel- und Arbeiterklasse fest, während sie selbst ihre eigenen schafft. Durchwegs hochgebildet, arbeitet sie zwar am meisten, erhält aber auch mit Abstand die höchsten Stundengehälter. Die daraus folgende soziale Dominanz schlägt sich auch in politischer Dominanz nieder: „In the 2000s, in most national parliaments, fewer than 4 per cent of seats were held by working-class people. (…) In the European Parliament, there are no manual workers at all, and barely 2 per cent of MEPs were formerly low-skilled white-collar workers.“ (S. 109)

Nationale Gräben innerhalb der EU

Immer wieder verweisen die Autoren auf die nationalen Gräben innerhalb der Europäischen Union und die strukturelle Abhängigkeit der ehemaligen kommunistischen Mitgliedstaaten. Dazu kommt die Migration der osteuropäischen Mittelklasse: Deren Vertreterinnen und Vertreter übernehmen häufig niedrig bezahlte Care-Arbeit für die westeuropäischen Eliten – was ihnen zwar ein verbessertes Einkommen bringt, für Familienstrukturen und den Talentepool in den Herkunftsländern aber ein großes Problem darstellt: „This ‚global care chain‘ is greatly to the advantage of families in the destination countries who have the means to make use of these new domestic services, while families in the countries of origin are those who lose most: they have to manage children and the elderly without the support of those who have chosen to migrate.“ (S. 143)

Angesichts all der Herausforderungen, den-en sich die Arbeiterklasse und Teile der Mittelklasse stellen müssen, fragen die Autoren: Kann es zu einer Mobilisierung der benachteiligten Klassen auf europäischer Ebene kommen? Sicher ist: Um eine langfristige Verbesserung für die abgehängten Klassen in Europa zu schaffen, braucht es eine transnationale gewerkschaftliche und zivilgesellschaftliche Organisation und politische Partizipation – erst dann kann man der transnationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik Paroli bieten und neue Solidarität in Europa schaffen.