Luuk van Middelaar

Das europäische Pandämonium

Ausgabe: 2021 | 3
Das europäische Pandämonium

Luuk van Middelaar ist Historiker und politischer Philosoph und lehrt EU-Recht an der Universität Leiden. In seinem neuen Werk „Das europäische Pandämonium“ versucht er die Entwicklung der Europäischen Union in den Jahren 2020 und 2021 zu beschreiben. Im Kern sagt er, dass sich die EU von der Regel- zur Ereignispolitik entwickelte. Statt stiller Technokratie sei Improvisationsfähigkeit in den Mittelpunkt gerückt.

Middelaar holt weit aus, um das Argument zu erläutern. Die Europäische Union in den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens war von entpolitisierenden Institutionen bestimmt. Dazu zählt er die Kommission und den Europäischen Gerichtshof. Beide Institutionen sorgen scheinbar unpolitisch dafür, dass die Vorgaben des Rates umgesetzt wurden. Ihren Rückhalt in der Öffentlichkeit sieht Middelaar nicht in demokratischer Mitbestimmung, sondern in praktischen Resultaten begründet. (S. 47)

Veränderungen und Krisen

Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Europa ändert sich auch die EU nur langsam. Die Idee, viele zusätzliche Staaten aufzunehmen, zwang, die institutionelle Organisation zu überdenken. Das ging einher mit einer Politisierung der Diskussion über Europäische Integration. Neue Verträge wurden bei Volksabstimmungen abgelehnt, nationale Höchstgerichte widersprachen, Konflikte zwischen Mitgliedsstaaten über die Ausrichtung der EU gingen einher mit wachsender EU-Kritik in Mitgliedsstaaten. Aber die Antwort der EU als Institution war zurückhaltend. „Schon von 1989 an setzte sich die Vorstellung fest, dass die Aufgabe einer neuen Union, Sicherheit zu garantieren und rasch auf Ereignisse zu reagieren, nicht so drängend sei.“ (S. 51) Aber die Beschleunigung der Abfolge wichtiger Ereignisse setzte sich trotzdem fort. „Seitdem vollzieht sich die Metamorphose Europas in einer Reihe von Krisen vor aller Augen, und das Publikum bemüht sich unverzagt um eine Rolle im Lauf der Geschichte.“ (S. 52)

Die großen Krisen seit 2008, Finanzkrise, Brexit, Zunahme der Zahl der Flüchtenden, Neuorientierung der USA unter Trump und die Pandemie hätten die EU gezwungen, ihre Grundsätze in Frage zu stellen und im unmittelbaren Hier und Jetzt zu handeln, um drohende Krisen zu beherrschen und zu überleben. „Eine neue und unerwartete Aufgabe: auf Kontingenz eingestellt sein und Ereignispolitik betreiben.“ (S. 53)

Die Europäische Union hat ihre stillen Regelwerke der Einigung produzierenden Maschinen nicht abgestellt, aber sie agiert nun pragmatischer. Gerade in der Coronakrise sieht Middelaar, wie die Union nach Wegen sucht, ihre Reaktionsgeschwindigkeit und Handlungsfähigkeit zu steigern. Das zwingt auch zur Politisierung: „Große Entscheidungen müssen öffentlich vertreten und demokratisch legitimiert werden. Konflikte zwischen beiden Ansätzen [Erg. d. Rezensenten: Entpolitisierung und Ereignispolitik] sind im Recht und in der Arbeitsweise der Institutionen wie auch in den Erwartungen der Öffentlichkeit angelegt. Ein Teil dieses Publikums legt Wert auf Stabilität und Sorgfalt, ein anderer verlangt, dass Europa entschlossen auf Veränderungen reagiert.“ (S. 116f.)

Ereignispolitik im Fokus

Was aber muss geschehen, wenn Ereignispolitik wichtiger wird und Beobachter:innen wie Middelaar davon ausgehen, dass sie die EU zukünftig noch stärker prägen wird? Drei Voraussetzungen müssten erfüllt sein, meint Middelaar. Erstens: Einigkeit und gemeinsame Verantwortung der Mitglieder. Zweitens spricht der Autor von Gestaltungswillen. Er zitiert hier Hannah Arendt, die von der Entschlossenheit sprach, „mit der Zukunft so zu schalten und so über sie zu disponieren, als wäre sie eine Gegenwart.“ (S. 120) Drittens müsse man sich an den Grundakkorden historischer Narrative und Begriffe orientieren. „Damit man sich auf künftige Entwicklungen einstellen und Mitgliedsstaaten um gemeinsamer Interessen willen auf eine Linie bringen kann, braucht es ein starkes, überzeugendes Narrativ zur europäischen res publica. Solange dieses Narrativ schwach ist, kann sich der öffentliche Auftrag nicht in einer institutionellen Form konkretisieren – dann bliebt nur das improvisierende Reagieren auf Krisen.“ (S. 147f.) Diese Erzählung, was Europa gemeinsam ist, seine historische und kulturelle Identität, sei für alle Beobachter außerhalb des Kontinents evident. „Woran es mangelt, ist der Wille – oder die Fähigkeit – der Europäer, diesem Narrativ eine politische Form zu geben.“ (S. 174)

Die Metamorphose von der Regel- zur Ereignispolitik vollzieht sich, wie man in der Pandemie sieht, holprig. Manches klappt schnell, anderes scheitert an alten Regeln und Gewohnheiten. Middelaar meint, die Europäische Union habe im ersten Jahr der Pandemie dynamische Spannkraft bewiesen. „Der Covid-Ausbruch verursachte Konflikte, Misstrauen und Fehlschläge, mobilisierte aber auch ungeahnte Kräfte und brachte gewaltige Veränderungen in Gang.“ (S. 177)