Christoph Butterwegge

Ungleichheit in der Klassengesellschaft

Ausgabe: 2021 | 2
Ungleichheit in der Klassengesellschaft

Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Fragen der Ungleichheit. Sein neues Buch Ungleichheit in der Klassengesellschaft versucht zu bestimmen, wo wir heute stehen. Und er wirft einen genauen Blick darauf, wie heute Ungleichheit analysiert wird.

Vier Formen der Ungleichheit

Für den Autor gibt es vier Haupterscheinungsformen der Ungleichheit in der heutigen Gesellschaft. Erstens: In der Einkommens- und Vermögensverteilung habe es ab Mitte der 1990er deutliche Verschiebungen gegeben. Der Lohnanteil am deutschen Volkseinkommen sei von 72,5 Prozent auf 68,5 Prozent im Jahr 2017 gesunken. Wäre er gleichgeblieben, würden die Lohnabhängigen heute über 1 744 Milliarden Euro mehr an Einkommen verfügen. (S. 134) Im Jahr 2018 galten darüber hinaus 13 Millionen Menschen nach den Kriterien der Europäischen Union als von Armut betroffen oder bedroht.

(S. 132) Zweitens ist Ungleichheit gerade in der Gesundheitspolitik ein wichtiger Faktor. Nicht zuletzt die Covid-19-Krise hat dies offengelegt. Sozial bedingte Vorerkrankungen wie Adipositas, Asthma, Zuckerkrankheit, Rheuma, Raucherlunge, schlechte Arbeitsbedingungen sowie beengte und hygienisch fragwürdige Wohnverhältnisse erhöhten das Risiko für eine Covid-19-Erkrankung, zitiert er eine Studie von Düsseldorfer Medizinern. (S. 141) Bildungsungleichheit durchzieht, drittens, nach wie vor die Gesellschaft. Einerseits besuchen immer mehr Kinder und Jugendliche Privatschulen. Je mehr Bildung gegen Geld angeboten, Bildung also zur Handelsware werde, umso stärker reproduziere sie sozioökonomische Ungleichheit und die Klassenspaltung der Gesellschaft. (S. 161f.) Dramatisch verschärft sich Ungleichheit, viertens, im Bereich des Wohnungswesens. Bei einer Untersuchung von 77 deutschen Großstädten habe sich gezeigt, dass Haushalte mit geringem Einkommen nicht bloß auf kleinerer Fläche pro Mitglied und in Wohnungen schlechterer Qualität wohnen, sondern auch eine deutlich höhere Mietbelastung zu tragen haben. Einkommensungleichheiten würden durch die Wohnverhältnisse verstärkt, zitiert Butterwegge die Studie von Henrik Lebuhn und anderen. (S. 177)

Diese Diagnosen zur Ungleichheit werden unterschiedlich interpretiert. Butterwegge verfolgt die aktuelle Debatte aufmerksam und setzt sich mit den wichtigsten Diskussionsbeiträgen auseinander. Oliver Nachtweys Buch Die Abstiegsgesellschaft beschrieb Deutschland als eine Gesellschaft, die den Bewohnerinnen und Bewohnern nicht mehr Prosperität und Aufstieg versprechen könne, da der soziale Abstieg, Prekarität und Polarisierung die bestimmenden Themen geworden seien. Bis in die 1980er-Jahre hinein sei man in der deutschen Gesellschaft wie auf einer Rolltreppe gemeinsam nach oben gefahren, nun gehe es in die andere Richtung. Butterwegge kritisiert dieses Bild, da der Eindruck erweckt werde, die Gruppen säßen im selben Boot, was unrichtig sei. (S. 74f.)

Die Gesellschaft der Singularitäten von Andreas Reckwitz findet in Butterwegge ebenfalls einen Kritiker. Reckwitz spricht von einer Verschiebung im Kapitalismus, da nicht mehr vor allem Materielles Reichtum bedeute, sondern Urheberrechte sowie Patente, Netzwerke, Daten oder kulturelle Symbole. Somit werde die Fähigkeit, Wissen zu erarbeiten und kulturell einzigartig zu sein, zum Distinktionsvorteil. Butterwegge meint, dass diese kulturellen Wertbezüge immer schon da gewesen seien: Luxusprodukte wurden niemals nach Material- und Arbeitswert bezahlt, Luxusuhren, Fahrzeuge von Rolls-Royce waren immer schon da, um kulturelle Abgrenzung zu zeigen. (S. 76f.) Butterwegge meint, dass die sozioökonomische Dimension die wichtigste sei.

Neue Hierarchien

Butterwegge sieht durchaus Verschiebungen in der Zusammensetzung der gesellschaftlichen Gruppen, zum Beispiel durch Globalisierung, Finanzialisierung und Digitalisierung. Obwohl es zu keiner grundlegenden Machtverschiebung zwischen den Klassen gekommen sei, haben sich sehr wohl innerhalb dieser neuen Hierarchien ergeben. Es sei beispielsweise eine ausgesprochen vermögende Oligarchie innerhalb des Kapitals entstanden, die dominant sei. Auch innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen sei es zu Verschiebungen gekommen, vor allem durch regionale Verlagerungen von Tätigkeiten in der Globalisierung, aber auch durch die Etablierung eines neuen Prekariats in scheinbarem Kontrast zu Stammbelegschaften.

Damit sollte klar sein, worum es Butterwegge in seinem Buch auch geht. Er warnt davor, dass Ungleichheit vor allem kulturell gesehen wird, dass neue soziologische Schichtmodelle – selbst, wenn manche Beobachtung auch für ihn augenfällig ist – den Blick verstellen für eine die Ungleichheit begründende Struktur des Wirtschaftslebens, wo nach wie vor die Position im Produktionsprozess entscheidend sei.