„Früher hatte sie sich nach Europa geträumt, wenn sie sich ein gutes Leben vorstellte. Heute hat sie nicht einmal mehr Träume, nur diese schreckliche Angst vor dem Leben.“ (S. 99) Gemeinsam mit ihrem Zwillingsbruder Idris begab sich Imani auf den Weg nach Europa. Wie so viele Somali wollten die beiden auf „Tahriib“ (Jugendjargon für den Weg nach Europa) gehen – den Warnungen ihres Vaters zum Trotz, ohne sich von ihrer Familie zu verabschieden. Ein Happy End in Europa gibt es für die beiden Jugendlichen nicht.
Aus der Sicht von Betroffenen
Die Geschichte von Idris und Imani ist nicht real und verkörpert dennoch die Lebensrealität junger Menschen aus Eritrea und Somalia. Die Autorin und langjährige Pressesprecherin des Hochkommissariats der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) Melita H. Šunjić hat in den vergangenen 10 Jahren etwa 2.000 Interviews mit Asylsuchenden aus Ost- und Westafrika, dem Nahen Osten sowie Afghanistan geführt bzw. deren Protokolle studiert. Auf Basis dieser Aufzeichnungen entstand das Buch Die von Europa träumen, denn schon immer sei die Expertin genervt von der in Europa vorherrschenden Migrationsdebatte gewesen, welcher sie eine rein eurozentrische Sicht vorwirft.
Es ist „ein fruchtloser Austausch von ideologisch geprägten Justament-Standpunkten, der sich in einer Endlosschleife wiederholt, ohne Lösungen hervorzubringen.“ (S. 12) Um dieser Rhetorik entgegenzuwirken, war es Šunjić ein Anliegen, ihr Wissen nicht nur im akademischen Diskurs zu teilen, sondern eine breite Öffentlichkeit daran teilhaben zu lassen. Insgesamt neun Kurzgeschichten aus unterschiedlichen Fluchtregionen wie Afghanistan, Syrien, Kamerun und dem Senegal lassen Leser:innen daher durch die Augen von migrierenden und flüchtenden Menschen blicken. Dieser – der Autorin zufolge unbedingt notwendige – Perspektivenwechsel, deckt viele der strukturellen und tagespolitischen Irrungen in Migrations- und Asylfragen auf.
Vertiefende Analyse fehlerhafter Strukturen
Auf den letzten 60 Seiten des Buches geht es um Fakten und Zahlen sowie um regionsspezifische Flucht- und Migrationsgründe, wobei laufend Vorurteile und fehlerhafte Darstellungen von Politik und Medien aufgedeckt werden. In der einleitenden „Begriffsentwirrung“ (S. 127) zwischen Flüchtlingen und Migrant:innen thematisiert die Autorin die Problematik von Begriffsaneignungen beziehungsweise negativen Framings. Sie kritisiert, dass NGOs vermehrt von Geflüchteten anstatt Flüchtlingen sprechen, „so als wäre die Bezeichnung Flüchtling ein Schimpfwort. […] Indem man das Wort vermeidet, trägt man dazu bei, den Begriff Flüchtling, aber auch die so bezeichneten Menschen abzuwerten“ (S. 129f.).
Auch in den folgenden Kapiteln legt die Autorin ihre Beanstandungen an der europäischen Flüchtlingspolitik offen dar. Die ehemalige Kommunikationsexpertin der UNHCR verbleibt nicht beim Aufzeigen von gravierenden strukturellen Fehlern. Stattdessen bietet sie „sieben Thesen für eine europäische Migrationspolitik“ an, welche jenseits von populistischen Mythen und idealisierten Hoffnungen eine objektive Betrachtung der gegenwärtigen Situation ermöglichen sollen.
Gängige Mythen werden entkräftet
Grenzschließungen etwa hindern Menschen nicht daran, sich auf den Weg in eine vermeintlich sichere Zukunft zu begeben. Vielmehr profitieren davon Schlepperorganisationen, deren Einnahmen durch erschwerte Bedingungen steigen. Auch die Kontrolle über Geldmittel der EU in Libyen sei viel zu gering, insbesondere, da dieses Land „der weitaus gefährlichste Ort der Welt für Flüchtlinge“ ist. (S. 195) Einen weiteren Punkt stellt das fehlende System für Wirtschaftsmigrant:innen dar, wie es in Nordamerika oder Australien üblich ist.
So sei das europäische Asylsystem zwangsläufig überfordert: Mehr als eine halbe Million
Menschen befindet sich EU-weit in Asylverfahren, obwohl sie im Grunde nicht dorthin gehören und das häufig selbst auch nicht wollen.
Mit Ausbildungsprogrammen und Partnerschaften könnte die Wirtschaft sowohl im Herkunfts- als auch Ankommensland profitieren. Weiterhin schlägt Šunjić schnellere und bessere Asylverfahren, eine bessere Versorgung in den Erstasylländern sowie die Bekämpfung von Schlepperbanden vor Ort und nicht erst auf hoher See vor.
Zusammenfassend gelingt es Šunjić auf nur 206 Seiten, die Mythen der Migrationsdebatte zu zerschlagen und zugleich auch alternative Lösungen und Ansätze vorzustellen. Am Ende der Lektüre bleibt die Hoffnung, dass Asyl und Migration in Zukunft doch menschenwürdig gestaltet werden könnten.