Anne Applebaum schreibt vom Scheitern eines bestimmten Demokratiemodells, das den freien Westen hinter den USA nach dem Zweiten Weltkrieg gegen den Kommunismus einte, und das sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als universal gültiges Entwicklungsmodell verstanden hatte. Für die Autorin ist es die rechte Mitte des politischen Spektrums in diesem Modell, die durch neue autoritaristische Bewegungen geteilt und polarisiert wird. Ihrer Analyse zentral sind Julien Bendas La trahison des clercs bzw. Verrat der Intellektuellen und Karen Stenners Forschung zur autoritaristischen Prädisposition. Ein Drittel der Bevölkerung habe die Neigung zu Homogenität, Einheit und Ordnung; Verschiedenartigkeit, Widersprüchlichkeiten und Komplexität würden als furchterregend empfunden, die Menschen reagierten mit einem Gefühl der Hilflosigkeit und Wut, so Stenner. Der 1927 von Benda beschriebene Verrat der Intellektuellen besteht nach Applebaum darin, die Suche nach Wahrheit als zentrale Aufgabe des Intellektuellen zugunsten der Verfolgung politischer Einzelinteressen aufzugeben; in seinen „Clercs“ erkennt Applebaum jene wieder, die in einem auf Wettbewerb und Meritokratie basierenden System erfolglos blieben und in der autoritaristischen Führerpartei die Chance sehen, durch unbedingte Partei-Loyalität ihre Karriereaussichten zu verbessern. Es seien die zu kurz Gekommenen, die sich vom Schicksal übergangen fühlten und dem demokratischen Wettbewerb verbittert den Rücken kehrten.
Über Verschwörungsnarrative
Auf Timothy Snyder hinweisend, nennt Applebaum als dritten Aspekt die „mittelgroße Lüge“, also all jene Verschwörungsnarrative, die sich problemlos in die Alltagserfahrung integrieren lassen und einfache Erklärungsmuster bieten. Sie würden die Inhalte liefern, mit denen die „Clerks“ autoritative Neigungen und die daraus resultierende Angst, Verzweiflung und Sehnsucht nach verloren geglaubter Souveränität bedienen könnten. Die Geschichten könnten dabei historische Vorbilder haben, wie Antisemitismus oder Homophobie, oder sich in Form von Anti-Islamismus oder EU-Feindlichkeit neu-erer Motive bedienen. Ein eigenes Kapitel widmet Applebaum dabei dem mit dem Internet in Gang gesetzten Medienwandel, der die durch traditionelle Medien hergestellte geteilte Wirklichkeitserfahrung zum Verschwinden bringe und dadurch noch mehr zur Unübersichtlichkeit beitragen würde.
Wie Applebaum in Bezug auf eine der zahlreichen Protagonistinnen und Protagonisten ihrer persönlichen Suche nach Ursachen dieser Spaltung schreibt, „as in the case of so many biographies, picking apart the personal and the political is a fool‘s game“ (S. 170). Dieser Satz gilt auch für ihre eigene Herangehensweise als Autorin. So bilden eine Silvesterparty zur Jahrtausendwende und ein Sommerfest des Jahres 2019 – beide im Haus ihrer Familie in Polen – den Rahmen, in dem sie anhand zahlreicher persönlicher Begegnungen die Spaltung des liberal-konservativen Westens beschreibt. Diese Reise führt uns von Ungarn über Polen und Großbritannien in die USA. Die persönliche Nähe zu
den von ihr beschriebenen Ereignissen ist tatsächlich unvermeidbar, Applebaums Ehemann Radosław Sikorski war Außen- und Verteidigungsminister in verschiedenen polnischen Regierungen. Beide gerieten ins Kreuzfeuer der PiS-nahen polnischen Medien. „Whether I like it or not, I am part of this story“, sagt sie daher an einer anderen Stelle (S. 11). Dieser biografisch-episodenhafte Erzählstil hat seinen Preis. So bleibt das Buch darüber, wer mit der gemäßigten, konservativen Rechten eigentlich gemeint ist, merkwürdig unreflektiert. „British Tories, American Republicans, East European anti-Communists, German Christian Democrats, and French Gaullists all come from different traditions, but as a group they were, at least until recently, dedicated not just to representative democracy, but to religious tolerance, independent judiciaries, free press and speech, economic integration, international institutions, the transatlantic alliance, and a political idea of ‚the West‘“, heißt es etwa (S. 19). Warum ausgerechnet diese Formation für den Weiterbestand der Demokratie wichtig oder gar entscheidend sein soll, bleibt unklar, ebenso, warum sie so leicht zu entzweien war und in Form autokratischer Regime eine dunkle Hälfte hervorbrachte, die sogar ihre parlamentarische Gruppe im Europäischen Parlament zu entzweien vermag.
Es bleibt eine merkwürdige Lücke
Eine merkwürdige Lücke lässt das Buch auch dort, wo die Ursachen des „democratic disenchantment“ in vielen Staaten bei den Regie-rungen der westlichen Demokratien selbst zu suchen wären. Obwohl 9/11 viermal im Buch Erwähnung findet, gibt es kaum Kritik an der Reaktion des Westens in den Folgejahren. Andere Demokratiekrisen, die zumindest unter Beteiligung der USA vor Trump ausgelöst wurden, wie die Snowden-Enthüllungen oder das Scheitern von TTIP, hätten zumindest Erwähnung verdient.