Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit

Ausgabe: 1994 | 1

Was Marianne Gronemeyer - sie lehrt Erziehungswissenschaften an der FH Wiesbaden - ihren Lesern beibringen will, ist geradezu unerhört: Nicht prometheischer Geist positiver Weltaneignung, nein, blanke Todesangst haben Rene Descartes, den wirkungsmächtigen Verkünder der Aufklärung, bewogen, die Entmachtung Gottes und die Knechtung der Natur zum Programm zu erheben. Denn methodischer Zweifel diene dazu, Sicherheit zu gewinnen. Mit Egon Friedell sieht die Autorin im epidemischen Auf treten der Pest, in deren Geleit die Jenseitshoffnung der Menschen zu Ende ging, die Geburtsstunde der Neuzeit, die nichts weniger im Schilde führt als "die Verbannung des Todes". Die Moderne verschreibt sich fortan der Sicherung und Ausweitung der Lebensspanne, der „Eliminierung der Überraschung", plant die Unterwerfung und kontrollierte Neuschöpfung der Natur. Wie konsequent und doch kontraproduktiv wir "im Namen des Fortschritts" verfahren, zeigt Gronemeyer - hier im deutlichen Gegensatz zu Ulrich Beck stehend - am Umgang mit der Reflexivität. Das Eigensinn und -willen signalisierende Wörtchen ‚sich' stehe der planenden Vernunft im Wege. Im Gefolge scheinbar innovativen und kontrollierbaren Verhaltens finde eine "Versteinerung des Menschen" statt. So räumt die Schule mit der Möglichkeit auf, sich zu bilden, untergräbt die Medizin die Möglichkeit, sich zu heilen. Das Bemühen um Freiheit auf der einen und Sicherheit auf der anderen Seite, das die Autorin als Projekt der Moderne definiert, ist zum Scheitern verurteilt, da beides nicht vereinbar ist. Selbst die "schlichte Einsicht, dass man sich vom Abgrund dadurch entfernt, dass man ein Stück zurücktritt, steht unter dem Verdacht, es sollten alle zivilisatorischen Errungenschaften zurückgenommen werden". Um nichts weniger trügerisch erweist sich die fortwährende Beschleunigung des Lebenstempos. Mit der Ablöse der göttlichen Heilszeit durch die mechanisch gesetzte Uhrzeit wird das Leben gleichförmiger. Zeitgewinn im Zeichen der" Monokultur der Raserei" hat Erfahrungs- und "Weltschwund" zur Folge, wie Gronemeyer an der kulturgeschichtlichen Entwicklung des Transportwesens nachweist. Insgesamt erweist sich das Projekt der Lebensverlängerung durch Beschleunigung als "gefährlich und enttäuschend zugleich", da es sich damit begnügt, "die Gleichförmigkeit hervorzubringen". Müßig und lohnenswert zugleich scheint es, ob dieser schonungslosen, gerade deshalb aber auch überzeugenden Analyse darüber nachzudenken, welchen Weg die Geschichte genommen hätte, wenn nicht Descartes, sondern Michel Montaigne das Projekt der Moderne stärker geprägt hätte, der die Selbstbildung des Menschen in den Mittelpunkt seines Denkens rückte und u.a. meinte: "Der Nutzen des Lebens kommt nicht auf desselben Dauer; sondern auf den Gebrauch an. Mancher; der kurze Zeit gelebt hat, hat lange gelebt. " W Sp.

Gronemeyer; Marianne: Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit. Darmstadt: Wiss. Buchges., 1993. 171 S. (WB-Forum; 81) DM 19,80/sFr 18,20/öS 155