Die Zukunft der Gewalt

Ausgabe: 1994 | 1

Ein Ende der Wohlstandsgesellschaft zeichnet sich ab. Die größten Wachstumsraten sind heute in der Bereitschaft zur Gewalttätigkeit und bei der Übertretung von Gesetzen zu erwarten. Im Jahr 1992 ist die Zahl der registrierten Verbrechen in Deutschland von 5,3 Mio. (1991) auf 6,2 Mio. gestiegen. Rechtsextremistische Gewalt hat 1992 17 Todesopfer gefordert. Dies alles nur als Phänomen einer verunsicherten Jugend zu erklären, ist für den Theologen und Soziologen Reimer Gronemeyer eine fromme Illusion, mit der er aufräumen möchte. Es gilt zu begreifen, dass Ausländerhaß und rechtsradikale Gewalt mit der kulturellen, ökonomischen und ökologischen Krise Deutschlands eng zusammenhängen. Der Autor erinnert daran, dass sich die jugendlichen Gewalttäter am Ende einer Kette befinden, "die zur Welt der Erwachsenen als den Verursachern zurückführt", die nicht zuletzt in Zusammenhang mit der Techno-Gewalt des Homo industrialis steht. Die Sozialisationsmechanismen von Familie, Schule und Betrieb versagen zusehends. Erziehung findet nicht mehr statt, Gronemeyer spricht vom „Erziehungsgau", da Kinder nurmehr "mit den Systemerfordernissen einer High-Tech-Gesellschaft kompatibel gemacht" werden. Wie soll aber eine Gesellschaft funktionieren, in der Gemeinsinn, moralische Grundfesten und Prinzipien der Menschlichkeit nicht mehr zur Verfügung stehen? Es geht für Gronemeyer heute darum, die von Menschen erfundene und produzierte Gewalt wieder in den Zivilisationsprozeß einzubinden. Er entwickelt deshalb Elemente einer neuen politischen Kultur: Auf der Ebene des Individuums im Sinne der Freiheit einer Wiederaneignung von Gefühlen; auf der Ebene der Gesellschaft als Fähigkeit, Fremdes zu respektieren (Überlebensrecht für kulturelle Differenzen); auf der Ebene der Schöpfung als Brüderlichkeit mit der Natur und v.a. als Fähigkeit zur Selbstbegrenzung. Die Zukunft der Gewalt zeige sich bereits im Verhältnis der Lebenden zu den Noch-nicht-Geborenen sowie im Verhältnis der Erwachsenen zu den Kindern. Schonungslos verdeutlicht der Autor die Verantwortlichkeit der Erwachsenen am Gewaltpotential der Jugend. Die Lösung des Problems erwartet bzw. erhofft er von einer anderen Generation, "die von einem mörderischen, gewalttätigen Lebensstil Abschied nimmt und bei einer neuen Askese ihre Zuflucht nimmt ... ". A.A.

Gronemeyer; Reimer: Das Blut deines Bruders. Die Zukunft der Gewalt. Düsseldorf (u.a.): Econ-Verl., 1993.215 S., DM 39,80/sFr 36,60/ÖS 311