Kulturgeschichte und Sittengeschichte des Alltags

Ausgabe: 1996 | 4

Nach einer umfänglichen "Theorie der Subkultur" (1971) und, neben vielem anderen mehr, bislang zwei enzyklopädisch angelegten Bänden zur "Geschichte der Zukunft" (1982/1984 im Syndikat Verlag erschienen), wendet sich Rolf Schwendter dem Alltag zu. Von jemandem, der "ein beiläufig geäußertes ,Guten Morgen' mit dem strukturäquivalenten ,Fröhliche Folter" zu beantworten pflegt, der der wissenschaftlichen Ergründung des Abweichenden (Devianzforschung) sich verschrieben hat - und darüber in Kassel, akademisch etabliert sich äußert -, der als Philosoph, Dramaturg, vielgerühmter Koch, als Schriftsteller und Liedermacher alles andere als selbst ein Mitglied des sich "anpassenden Ensembles kompakter Majorität" ist, kann beiläufig Harmonisierendes über unser aller Tag- und Nachtwerk nicht erwartet werden: Schwendter, u. a. mit Agnes Hellers Monographie über das Alltagsleben, mit Henri Levebre und Joseph von Westphal sich auseinandersetzend, neigt dazu, "die regressiven Wirkungen des Alltags in den Vordergrund zu stellen, (die) alle emanzipatorischen und kreativen Impulse allmählich abtöten".  Pointiert, sarkastisch und offen auch über persönliche Gepflogenheiten Auskunft gebend, erörtert Schwendter Facetten des" integrativen Alltags" (in Schule, Erwerbsarbeit und Beruf, in Ehe und Familie), berichtet vom "routinierten" (bestimmt u. a. durch Essen, Körperpflege und Kleidung) und vom "zeichenhaften Alltag" (repräsentiert durch Sprache und Klatsch, Gewaltphantasien, Zeitung, Fernsehen und Telephon - dem Schwendter bekanntlich konsequent sich verweigert), beleuchtet den “Verregelten Alltag" (bestimmt durch den Gang zu Banken, Behörden, Versicherungen und das Ausfüllen von Steuererklärungen) und läßt sich, teils mit beißender Ironie, über die Varianten des "kompensatorischen Alltags" aus: den feinen Unterschieden von Shopping und Einkaufen, den schier unbegrenzten Formen des Hortens und Sammelns ist er ebenso auf der Spur wie den vielfach unwiderstehlichen Verlockungen, die Cafés. Konditoreien oder der Gang zum Friseur (dem der Autor selbst standhaft sich fernhält) bereiten. Dem Phänomen des Saturday Night Fever widmet er sich mit gleicher Aufmerksamkeit wie den unerfüllbaren Erwartungen an einen gelingenden Urlaub. Kurioses versammelt Schwendter schließlich im Kapitel "Der partikulare Alltag", wobei die Episode vom verlorenen Schlüssel zwar höchst vergnüglich zu lesen ist, de facto indes einem Alptraum gleichkommt. Wer danach fragt, wo denn bei dieser Fülle reglementierender Alltagsverrichtung Raum zum Nachdenken über und zur Gestaltung von Zukünftigem bleibt, dem weist Schwendter die Richtung: "Zu der Vielzahl und Vielfalt meiner Tätigkeiten, zum Ensemble meiner spezifischen Produktivität komme ich nur deshalb, weil ich mich so einigermaßen bemühe, soviel wie möglich des im vorliegenden Buch Angeführten zu vermeiden." W. Sp.

Schwendter, Ralf: Tag für Tag. Eine Kultur- und Sittengeschichte des Alltags. Hamburg: Europäische Verl.-Anst., 1996. 321 S.,