Perspektiven einer europäischen Arbeitszeitpolitik

Ausgabe: 1995 | 4

An die 16 Millionen Menschen sind derzeit in den Ländern der Europäischen Union als arbeitslos gemeldet. Die Ursachen sind weniger konjunktureller, sondern vielmehr struktureller Art. Zunehmende Automatisierungsmöglichkeiten sowie ein sich verstärkender internationaler Konkurrenzdruck drängen die Unternehmen dazu, ihre Kosten- und Gewinnsituation durch Entlassungen zu "verbessern". Eine Trendumkehr ist nicht in Sicht. In ihrem Weißbuch setzt sich die Kommission der EU daher das ambitionierte Ziel, bis zum Jahr 2000 15 Millionen neue Arbeitsplätze zu schaffen. Erreicht werden soll dies durch Anregung des Wachstums, Senkung der Arbeitskosten sowie durch den Ausbau bürgernaher Dienste.

Ohne die Strategien der EU-Kommission grundsätzlich in Frage zu stellen (weiteres Wirtschaftswachstum kann auch die ökologische Krise weiter verschärfen!), fordern die europäischen Gewerkschaften, die Aufmerksamkeit auch auf weitere Arbeitszeitverkürzungen zu werfen, um Massenentlassungen und der Beschäftigungskrise entgegenzuwirken. In einer Tagung im Dezember 1994 wurden diesbezügliche Perspektiven und Strategien diskutiert. Sie sind im vorliegenden Band zusammengefaßt.

Drei Themenbereiche standen dabei im Mittelpunkt:

1. In welcher Weise kann eine Politik der radikalen Arbeitszeitverkürzung dem Ziel der Wiederherstellung von Vollbeschäftigung dienen?

2. Welche innovativen Arbeitszeitpolitikmodelle sind notwendig, um den auf Deregulierung und Flexibilisierung angelegten Unternehmensstrategien begegnen zu können (etwa arbeits- und sozialrechtliche Gleichstellung von Teilzeitkräften).

3. - und das ist für Gewerkschaften ein neues Feld -, wie kann angesichts der Pluralisierung der Lebensstile und der unterschiedlichen Wünsche an Zeitsouveränität durch flexible Arbeitszeitmodelle auch seitens der Gewerkschaften Rechnung getragen werden ("Strategie der gewählten Zeit"). 

Die Vorschläge reichen von der 4-Tage-Woche über den Ausbau von gesetzlich verankerten Weiterbildungsmaßnahmen oder verlängerten Erziehungsurlauben bis hin zur EU-weit verbindlich fixierten, gestaffelten Besteuerung von Überstunden.

Als Tagungsdokumentation weist der Band Wiederholungen auf, seine Beiträge, die auch durch Berichte zur Arbeitszeitpolitik in einzelnen EU-Ländern ergänzt werden, sind jedoch ein wichtiger Anstoß zur überfälligen Diskussion über eine sozial ausgewogene Neuverteilung der Arbeit an der Schwelle zur Informationsgesellschaft. Skepsis bleibt angebracht bezüglich des Glaubens an eine "ökologisch orientierte Wachstumsoffensive ". Wäre es nicht an der Zeit. nach einer Wirtschaft zu fragen, die nicht mehr wächst und dennoch allen Beschäftigung und Einkommen garantiert?

H. H.

Arbeitszeit - Lebenszeit. Perspektiven einer europäischen Arbeitszeitpolitik. Hrsg. v. Reiner Hoffmann ...

Münster: Westfälisches Dampfboot, 1995. 287 S., DM / sFr 39,80/ ÖS 311,