Anders als im britisch-skandinavischen Modell, das steuerfinanziert - einen gleichen und universellen Leistungsanspruch für alle Berechtigten gewährt, ist der Sozialstaat in Deutschland (und auch in Österreich) im wesentlichen erwerbsarbeitszentriert. Steigende Dauerarbeitslosigkeit, der Übergang zum Wachstum ohne Vollbeschäftigung ("jobless growth") sowie die sich verändernde demographische Situation erfordern rechtzeitige Veränderungen und Anpassungen, sollte die Krise des Sozialstaates nicht zu seinem Zerfall führen.
Das vorliegende Jahrbuch versammelt Autorinnen, die Reformvorschläge für eine Adaptierung des Sozialsystems unterbreiten und dabei durchaus unterschiedliche Akzente setzen. So plädiert etwa Meinhard Miegel, Leiter des Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft in Bonn, für die Umstellung der Rentenversicherung auf eine für alle gleich hohe Grundsicherung. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Rudolf Dressler hingegen will die Rentenfrage durch Erhöhung der Beitragszahler, d. h. durch Rückkehr zur Vollbeschäftigung und durch Ausweitung der Frauenerwerbsquote gelöst wissen. Bleibt die Frage, wie dies erreicht werden soll?
Friedhelm Hengsbach, der auf die "Nichtausschöpfung menschlichen Produktivvermögens" durch Arbeitslosigkeit hinweist, fordert eine familienfreundlichere Gestaltung des Sozialsystems, da dieses derzeit Kinderlose bevorzuge: ein einkommensabhängiges, degressives Kindergeld zählt ebenso zu seinen Vorschlägen wie eine Beitragsstaffelung zum Sozialsystem nach der Kinderzahl oder der Ausbau der abgegoltenen Erziehungszeiten als Beitrag zur Arbeitszeitverkürzung. Dem “arbeitssparenden Charakter" der modernen Technik soll, so ein weiterer Beitrag, durch Einführung des Verursacher- und Vorsorgeprinzips für die Unternehmen entgegengewirkt werden, um so der Externalisierung sozialer und ökologischer Kosten - z. B. durch Ökosteuern im Umweltbereich oder durch betriebliche Gesundheitsvorsorge als Maßnahme gegen Frühverrentung wirksame Grenzen zu setzen.
Die zunehmende Aufspaltung der Gesellschaft in Jobbesitzer und Joblose - die Rede ist von einer" 70-20-10-Gesellschaft", in der 70% nie arm werden, 20 % zeitweise und 10% länger arm sind - soll durch eine "integrierte Armuts-und Sozialpolitik" verhindert werden. Nicht zuletzt werden Solidarbeiträge gefordert. Beziehern mittlerer Einkommen soll der Verzicht auf weitere finanzielle Forderungen durch immaterielle Kompensationen (Qualität der Arbeit, mehr Zeitsouveränität und Mitbestimmung) schmackhaft gemacht werden. Daß auch Erfahrungen aus anderen Ländern für die Debatte um die Zukunft des Sozialstaats in Deutschland fruchtbar gemacht werden können, zeigt der letzte Teil des umfangreichen Bandes, der u. a. sozialpolitische Innovationen aus dem skandinavischen Raum zur Diskussion stellt.
H. H.
Zukunft des Sozialstaats. Jahrbuch Arbeit und Technik 799 S. Bonn: Dietz, 1995. 387 5., DM / sFr 35,- / ÖS 273