Parag Khanna

Move

Ausgabe: 2021 | 4
Move

Es sind eine Handvoll wichtiger Faktoren, die entscheidend dafür sind, wie groß Wanderungsströme ausfallen. Parag Khanna zählt fünf auf. Demographische Ungleichgewichte zwischen alternden und jungen Gesellschaften führen zum Zuzug junger Arbeitskräfte in die alternden Regionen. Tyranneien und Verfolgung von Minderheiten setzen Fluchtbewegungen in Gang. Hat man beruflich keine Perspektive im eigenen Land, sucht man diese andernorts. Weiterhin können technologische Veränderungen Abwanderungen von oder zu Industriestandorten zur Folge haben. Schließlich sind klimatische Veränderungen immer schon ein Grund für Aus- und Einwanderung gewesen. Alle fünf Faktoren spielen heute eine Rolle. Dazu kommt, dass die Menschen heute weltweit besser vernetzt sind denn je. Wissen, Sprachkenntnisse, Verkehrswege, Kommunikationsnetze und familiäre Bande spannen sich um den Globus und erleichtern Wanderung. Parag Khanna sagt schlussfolgernd, wir leben in einer Zeit beschleunigter Mobilität. (S. 41)

Auch kulturelle Faktoren spielen für Migrationen eine relevante Rolle. Der Autor beruft sich unter anderem auf eine Studie der „Doha Debates“, wonach junge Leute mit Staatsbürgerschaft heute „Schutz“ und „Privileg“ assoziieren, aber nicht mehr „ethnische Identität“.

(S. 119) „Junge Menschen, die die Orte entdecken und gestalten, an denen sie sich wohlfühlen, sind eine postmoderne Form des kulturellen Staatenbaus. Für sie heißt ‚sich selbst finden‘ nicht, nach Hause zu gehen, sondern sich zu Hause zu fühlen.“ (S. 134)

Besonderes Augenmerk auf dem Faktor Klimwandel

Khanna legt besonderes Augenmerk auf den aktuellen Klimawandel. Derzeit zähle man 50 Millionen Klimaflüchtlinge auf der Welt, ein weiteres Grad Temperaturanstieg würde die Zahl auf 200 Millionen anwachsen lassen, bei noch zwei weiteren wären wir bei einer Milliarde Menschen. (S. 48) „Wenn wir nun gedanklich die Jahre bis 2050 vorlaufen lassen, werden wir sehen, dass die Küstenlinien Nordamerikas und Asiens im Meer versinken und die dort lebenden Menschen gezwungen sind, ins Inland zurückzuweichen. Unzählige Südamerikaner und Afrikaner werden nach Norden strömen, wenn ihr Ackerland zur Wüste wird und ihre Wirtschaft zerfällt. Südasien – Indien, Pakistan und Bangladesch – wird der Ursprung eines noch größeren Exodus sein, wenn die Meeresspiegel steigen und viele Flüsse austrocken, während menschliche Arbeitskraft durch Automatisierung überflüssig wird und immer mehr Staaten an der Aufgabe scheitern, ihren Bürgen gesellschaftliche Stabilität und ausreichende Sozialleistungen zu sichern.“ (S. 394) Andererseits werden im Laufe der Jahrzehnte Dutzende neue Städte in vormals unbesiedelten, dann klimatisch begünstigen Gebieten entstehen, von der kanadischen Arktis und Grönland über das russische Sibirien bis hin zur zentralasiatischen Steppe.

Vier Szenarien von Migration

Vier Szenarien werden in dem Buch entwickelt, was nach und während dieser Wanderungen passiert. Welches davon eintritt, hängt von der Antwort auf zwei Fragen ab. Erstens: Etablieren wir nachhaltige Strukturen vor dem Hintergrund des Klimawandels? Und wie gehen wir mit Migration um? Wird in Zukunft Migration geblockt, könnte es zur Bildung von „Festungen“ der klimatisch gut bewohnbaren Regionen kommen. Verzichtet man auf nachhaltige Politik, würde man den Kollaps und das Chaos außerhalb dieser Gebiete in Kauf nehmen. Versucht man die Lage zu stabilisieren, würden die abgeschotteten, klimatisch begünstigten Regionen immerhin versuchen, durch Technologietransfer die Lage außerhalb ihrer Grenzen zu verbessern. Will man diese Zweiteilung der Welt nicht, so wird es notwendig sein, entweder freiwillig und organisiert Millionen Menschen in die klimafreundlichen Regionen einwandern zu lassen. Oder es kommt zum wirtschaftlichen Zusammenbruch in den Regionen im Klimastress mit frei fließenden Migrationsströmen und Konflikten. (S. 57)

Eine historische Chance ergibt sich

Was tun: „Gäbe es einen Begriff für meine Haltung, müsste er ‚kosmopolitischer Utilitarismus‘ lauten: Wir sollten unsere Geographie neu ausrichten, um jetzigen und kommenden Generationen ein Maximum an Wohlfahrt zu ermöglichen.“ (S. 411) Das bedeute zur Kenntnis zu nehmen, dass Einwanderung zuzulassen unumgänglich ist. Es gehe nicht nur um die einzelnen Menschen, die heute unterwegs sind, und wie man mit ihnen umgehen soll. Diese Menschen seien Teil einer wesentlich weitreichenderen Entwicklung, eines epochalen Wandels der globalen Zivilisation. Gegenwärtig öffne sich ein historisches Möglichkeitsfenster – das letzte Möglichkeitsfenster –, um das Überleben möglichst vieler Menschen sicherzustellen. Es bedürfe einer kollektiven Umsiedlungsstrategie der Weltbevölkerung.