Kinder der Freiheit

Ausgabe: 1997 | 3

Wir leben in einem "Zeitalter der Auflösung", und was an seine Stelle treten könnte - die „Zweiten Moderne" - ist nicht nur aussichtslos, sondern offen" (U. Beck), Die "ansteckende Neugierde", die sich der Herausgeber im Umgang mit der Gegenwart und im Blick auf die Zukunft wünscht, ist kennzeichnend für jeden der hier versammelten 14 Beiträge. Und so ist es denn nicht überraschend, daß auch der Leser unwiderstehlich in den Bann dieser Seiten gezogen, für die aufgebrachte Geduld aber reich belohnt wird. Diese "Kinder der Freiheit" zu kennen, ist unabdingbar für das Verständnis der gegenwärtigen Zeitläufe. Wer ihnen Zeit und Aufmerksamkeit schenkt, hat gute Aussichten, unsere Epoche besser zu versehen und Zukunft auch selbst zu gestalten. Die Welt der alten Sicherheiten - wir wissen es längst -, in der gesellschaftliches Selbstverständnis "durch Altäre, Kriege, Wohlstand oder Wahlen" (Beck) gestiftet wurde, gehört der Vergangenheit an. Anstatt jedoch in ein kollektives Lamentieren über den Verfall der Werte, Ichsucht. Konsumismus oder die schier unerträgliche Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen zu verfallen (und protektionistisch an der Restauration des Verblassenden zu basteln), lohnt es, danach zu fragen, wie die (europäische) Gesellschaft neu und zukunftsfähig zu gestalten wäre. Die "Kinder der Freiheit" werden - will man den gleichermaßen wohl begründeten wie inspirierenden Thesen Ulrich Becks (der Herausgeber lehrt Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München) und den meisten der hier versammelten Befunden Glauben schenken - Vertreter eines (auf A. de Tocqueville, I. Kant, F. Nietzsche und G. Benn sich berufenden) "weltbürgerlichen Republikanismus" sein. Beck kennzeichnet ihn (1.) durch eine neue Bedeutung des Individuums, (2.) die Zentralität weltbürgerlicher Akteure, (3.) die neue Wichtigkeit des Lokalen, (4.) eine in politischer Freiheit agierende aktive Bürgerschaft und - in alledem begründet - (S.) tiefgreifende institutionelle Reformen, "ja eine Reformation der ersten industriellen Moderne", der eine im kultivierten Dissens entwickelte Vielfalt selbstverständlich ist. Wege und Hindernisse dorthin beschreiben u.a. Robert Wuthnow (Princeton), der dem Zusammenhang von Individualismus und Altruismus in den USA nachspürt, oder Helen Wilkenson (London). die aufgrund zahlreicher empirischer Befunde v.a. bei Jugendlichen Anzeichen für eine "neue Ethik individueller und sozialer Verantwortung" ausmacht. Eileen Barker (London) ist dem Zusammenhang von (mutmaßlicher und tatsächlicher) Freiheit und Begrenzung im Kontext von Religionsgemeinschaften und Sekten auf der Spur, Michael Brater (München) beschreibt die Aufgabe der Selbstfindung und die Ausbildung der Ich-Identität als zentrale Herausforderung für die Schule und leitet daraus Handlungsempfehlungen für die Pädagogik ab, und Ronald Hitzler (Dortmund) analysiert des verunsicherten Bürgers Ruf nach law and order. Dem (wandelbaren) Geist der Demokratie und Freiheit - u.a. als Idee und Rechtsform -, den "Vätern der Freiheit" [s.o.] und der Utopie politischer Freiheit als Sinnquelle der Moderne widmet sich der Herausgeber in drei weiteren Beiträgen - nicht zuletzt auch stilistisch brillant in jeder Zeile. (Wann war das zuletzt von einem Soziologen deutscher Sprache zu sagen?) Dem beziehungs- und bezeichnungsvollen Umgang mit "Schmutziger Wäsche", den Facetten der Sinnhaftigkeit im Single-Dasein, der Vielfalt soziokultureller Landschaften in einer englischen Kleinstadt und nicht weniger als der Spaltung der Weltgesellschaft in immer weniger Reiche und immer mehr Arme (und "Unbrauchbare") sind weitere Beiträge gewidmet. Allein der letztgenannte Beitrag von Zygmunt Baumann (Leeds) erschreckend schonungslos und vielleicht gerade deshalb wir kaum ein anderer dazu einladend, selbst den Schritt in die Zweite Moderne zu wagen - macht diesen Band zur Pflichtlektüre. W Sp.

Kinder der Freiheit. Hrsg. v. Ulrich Beck. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1997. 405 S. (Edition Zweite Moderne) DM 30,- / sFr 27,50 / öS 219