Grenzen-los? Jedes System braucht Grenzen

Ausgabe: 1997 | 3

Wenn Hazel Henderson zu Beginn ihres unter vielen glanzvollen Beiträgen nochmals Akzente setzenden Vortrags zu Ende des 6. Jahreskongresses des Wuppertal-Instituts davon spricht, daß diese Konferenz ein "Fest des Vor-Denkens" gewesen sei, so ist das in der Tat weit mehr als eine Referenz gegenüber dem Gastgeber: Ernst U. v. Weizsäcker und seinem Team ist es gelungen, mit dieser Veranstaltung einen weiteren Meilenstein des interdisziplinären, im wahrsten Sinn des Wortes grenzüberschreitenden Polylogs zu setzen. Auch im (v.a. dank hervorragender Übersetzungen) gut zu leistenden Nachvollzug wird deutlich, wie facettenreich, konstruktiv und inspirierend es sei kann, aus verschiedenen Blickwinkeln über die "Ambivalenz der Grenzüberschreitung" (v. Weizsäcker) zu sprechen. Galt sie bislang geradezu als Voraussetzung "fort-schreitender" Erkenntnis, so rückt heute - vielgestaltig und differenziert - der Aspekt der Begrenzung und der dadurch erst mögliche kontrollierte Austausch als Grundbedingung gelingenden Lebens in den Blick.

In zwei Plenarsitzungen und vier Seminaren kamen dieser Herausforderung nicht weniger als 27 Referentinnen nach, wobei sich der Bogen von Johannes Rau (plädiert für eine Politik jenseits von „Allmachtsphantasien [und] Ohnmachtsgebärden") bis hin zu H. Hendersons Vision einer (spieltheoretisch fundierten) "Ökonomie der Liebe" spannt bei der "alle Seiten gewinnen", daß dies eine wohlbegründete und realistische Zukunftsperspektive jenseits "einer ökonomischen Profession [ist], deren perverse [und zudem unwissenschaftliche] Grundannahmen den unberechenbaren Globalisierungstrend von heute beherrschen und verstärken", macht (nicht nur) Hendersons ebenso streitbarer wie weitsichtiger Beitrag deutlich. Was innerhalb dieses Spektrums an Phänomenen der Grenzziehung und -überschreitung im Positiven wie Negativen ausgelotet wird, kann nur angedeutet werden. In Plenum I legt u.a. der Biologe D. Oesterhelt die Funktion von Membranen als biologische Barrieren dar und referiert P. Minford (in der Auseinandersetzung mit den Thesen von J. Goldsmith) über Globalisierung der Ökonomie als "Akt der Zerstörung oder kreativen Prozeß", Die Rolle von Grenzen in den Naturwissenschaften diskutieren U. Sleytr (S-Schichten), R. Barry (Evolution) und E. Pöppel (Hirnforschung). Folgen "grenzenloser Technik" sind das Thema Hans G. Danielmeyers (Industriegesellschaft und Beschäftigung). O. Giarinis (Von der globalen Fabrik zur Dienstleistungswirtschaft) B. Guggenbergers (über Cyberspace, Mode und die Wiederaneignung von Raum) und G. Scherhorns (warnt vor der Aufkündigung des „fordistischen Gesellschaftsvertrags"). Nach dem Festvortrag des Entwicklungspsychologen R. K. Silbereins (Das veränderungsoffene und grenzenbewußte Ich) widmete man sich dem Zusammenhang von (verletzten) Grenzen als Herausforderung der Zivilisation. Referentinnen hier u.a.: I. Illich (über philosophische Aspekte)' die philippinische Menschenrechtlerin V. Tauli-Corpuz (über wirtschaftliche Ausbeutung und Völkermord) und D. Posey (über indigene Völker, traditionell Bauern und örtliche Gemeinschaften). Das abschließende Seminar (u.a. mit dem Verfassungsjuristen E.-W. Böckenförde. R. Petrella und Wouter van Dieren) war dem Zusammenhang von Globalisierung, Wirtschafts- und Energiepolitik gewidmet. Im Schlußplenum setzte H. Henderson die Akzente und lieferte V. Hösle aus Sicht des Philosophen einen längeren Beitrag. Zudem belebte ein über den gesamten Tagungsverlauf hin ebenso waches wie kritisches Publikum die Diskussion.

Insgesamt: Ein Band - weit mehr als nur auf der Höhe der Zeit im besten Sinne zukunftsweisend. W Sp.

 

Grenzen-los? Jedes System braucht Grenzen - aber wie durchlässig müssen sie sein? Hrsg. v. Ernst U. v. Weizsäcker. Basel (u. a.): Birkhäuser, 1997. 405 S.,