Nobelpreisträger Joseph Stiglitz ist ebenfalls der Ansicht, dass es da und dort geringfügige Verbesserungen geben wird, die systemrelevanten Megabanken aber weitgehend so weitermachen könnten wie bisher. „Geschäfte mit außerbörslichen Finanzderivaten, die den Steuerzahler so teuer zu stehen gekommen sind“, würden nicht in nennenswertem Umfang eingeschränkt werden, „und Manager in der Finanzbranche werden weiterhin unverhältnismäßig hohe Bonuszahlungen kassieren“ (S. 369). Stiglitz fasst in seinem neuen Buch „Im freien Fall“ die Fehltritte, Folgen und Lehren aus der Krise zusammen und appelliert an die Mächtigen der Welt, eine verantwortungsvollere Wirtschafts- und Finanzpolitik einzuleiten. Er kritisiert die enthemmte Globalisierung ebenso wie die ausufernde Deregulierung und beschreibt, wie es zur Krise kam: Die Immobilienblase, aufgebläht mit zweitklassigen Hypothekendarlehen, die überhitzten Finanzmärkte, getrieben von der Gier der Spekulanten, all das eingebettet in eine toxische Kreditkultur, die seit Jahrzehnten die Menschen dazu verführte, über ihre Verhältnisse zu leben. Vor allem aber zeigt Stiglitz, wie inzwischen viele andere auch, dass wir aus dem bisherigen Überleben des Systems die falschen Lehren gezogen haben, „nämlich, dass es aus eigener Kraft funktioniere“. Seine tiefe Sorge, Amerikas Führung würde nicht die richtigen Schritte einleiten und die notwendigen Konsequenzen ziehen, ist durchaus berechtigt. Eindringlich weist der Ökonom auf das „moralische Defizit“ der Finanzbranche hin, die von Eitelkeit, Raffgier, Habsucht und Verantwortungslosigkeit getrieben sei.
Die globale Finanzkrise als hochkomplexes Phänomen lässt sich aber wohl nicht mit Begriffen aus dem klassischen Lasterkatalog erklären, wie Hans-Olaf Henkel in „Die Abwracker“ anmerkt. Er vertritt die These, dass die Weltwirtschaftskrise „nicht durch dieses oder jenes Laster ausgelöst wurde, sondern durch das Gegenteil: durch den unbedingten Willen zur Tugend“ (S. 13). Seiner Ansicht nach ist die Krise nicht aus Gier, sondern aus „Gutmenschentum“ entstanden. Insgesamt ist seine Analyse sehr einseitig, denn in altbekannter Diktion wettert er gegen die „neo-sozialistische Ideologie“. Der ehemalige Präsident des BDI wünscht sich eine Beendigung des übertriebenen Kündigungsschutzes, ein Ende der Gleichmacherei durch Tarifverträge, eine stärkere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sowie die Senkung der Beiträge zur Sozialversicherung. „Für die medizinische Grundversorgung und Absicherung der Hauptrisiken entrichtet jeder den gleichen Grundbetrag“, so seine Wunschvorstellung. (S. 236) Nach Henkels Einschätzung sei es auch unredlich, dem Staat mehr Verantwortung zu übertragen. Zumindest für Deutschland gilt für ihn das Gegenteil. Denn Politiker in den Kontrollgremien staatlich kontrollierter Banken (die mehr als 70 Prozent der kritischen Papiere besessen haben bzw. noch besitzen) „hätten es verbockt und sich diese Papiere andrehen lassen“.
Aber noch einmal zurück zu den moralischen Defiziten der Branche.
Der Ex-Topmanager Peter H. Grassmann spricht in senem Buch „BurnOut“ von der Notwendigkeit einer generell verbesserten Werteorientierung als Gebot der Stunde. „Und dabei kann die Einbeziehung der Mitbestimmung der Zivilgesellschaft und der Aufbau strenger Branchenkodizes für alle beteiligten Wirtschaftszweige durchaus eine Antwort sein zur Sicherung der Werteorientierung und Begrenzung der ständig wiederkehrenden Exzesse“ (S. 129). Die von ihm vorgeschlagene verschärfte Pflicht zum Wertekodex lässt sich aber nur in einem komplexen Zusammenspiel vieler Akteure auf globaler Ebene verwirklichen und davon sind wir noch weit entfernt.
Stiglitz, Joseph: Im freien Fall. Vom Versagen der Märkte zur Neuordnung der Weltwirtschaft. Hamburg: Siedler-Verl., 2010. 448 S., € 24,95 [D], 25,70 [A],
sFr 43,90; ISBN 978-3-88680-942-4