Jason Hickel

Weniger ist mehr

Ausgabe: 2022 | 4
Weniger ist mehr

„Sobald wir verstehen, dass wir auch ohne Wachstum ein gutes Leben haben können, öffnet sich unser Horizont plötzlich ganz weit. Auf einmal wird es möglich, sich eine andere Art von Wirtschaft vorzustellen, und wir haben den Kopf frei, um wirklich ganz rational zu überlegen, wie auf den Klimanotstand zu reagieren ist.“ (S. 233) So der Wirtschaftsanthropologe und Journalist Jason Hickel in seinem neuen Buch Weniger ist mehr. Hickel hinterfragt die weit verbreitete Auffassung, Wohlstand könne nur durch Wachstum gesichert werden und argumentiert mit dem Gegenteil: Die gegenwärtige Form von Wachstum zerstöre den Wohlstand, weil sie unsere Lebensgrundlagen zerstört. Das Bruttoinlandsprodukt als Maßzahl für Wirtschaftswachstum sei ein „Indikator für das Wohlbefinden des Kapitalismus“ (S. 119; „46 Prozent der neuen Einnahmen aus dem globalen Wirtschaftswachstum gingen zuletzt in die Taschen der reichsten 5 Prozent“, S. 219). Notwendig sei eine „Wohlbefindensökonomie“ mit neuen Maßzahlen, die es zuhauf gebe, aber ignoriert würden. Diese andere Ökonomie stelle die Grund- und Gemeingüter, nicht das Anwachsen des Konsums allgemein, ins Zentrum der Bemühungen, so die Grundthese des Autors im Einklang mit der „Degrowth-Bewegung“.

Über dualistisches Denken

Anders als in seiner letzten Publikation Die Tyrannei des Wachstums geht Hickel nun auch auf die tieferen Ursachen unserer Krise ein: das in der Aufklärung entwickelte dualistische Denken, das zwischen Geist und Körper, menschlichen und nicht-menschlichen Wesen sowie Zivilisation und Natur unterscheidet. Die Ausmerzung der Allmenden, die Einhegung von Grund und Boden sowie die Entstehung des Kapitalismus aus dem Geist des dualistischen Denkens, das selbst die Sklaverei als naturgegeben hinnahm, seien zum Verständnis der aktuellen Krisen ebenso notwendig wie die Einbeziehung der „Wissenschaften der Indigenas“, die bis heute im Einklang mit ihrem Ökosystem leben.

Anhand zahlreicher Studien und Fakten erinnert Hickel einmal mehr an die Größe der Herausforderung. Verwoben mit der Klimakrise gehe es um die Degradation der Böden – „landwirtschaftlicher Boden geht zehn Mal schneller verloren, als er sich bildet“ (S. 18), die Leerfischung der Meere oder den Verlust an Arten. „Etwa eine Million Spezies sind heute vom Aussterben bedroht.“ (S. 21) Wir wissen genug, aber warum handeln wir nicht entschiedener? Hickel sieht in den zahlreichen Ökofakten eine doppelte Botschaft: Zum einen warnen sie uns, zum anderen geben sie uns das Gefühl, noch abwarten zu können, „bis die Fakten noch extremer werden“. Doch dies sei ein Trugschluss: „Wir leben in einer Welt, die im Sterben liegt.“ (S. 31)

Die Überwindung des Kapitalismus

Die Schuld allein bei den Fossilkonzernen zu suchen, greife zu kurz, so Hickel: „Worum es eigentlich geht, das ist das Wirtschaftssystem, das im Laufe der letzten Jahrhunderte mehr oder weniger den gesamten Planeten unter seine Herrschaft gebracht hat: der Kapitalismus.“ (S. 33) Dieser müsse überwunden werden; und mit ihm auch die „totalitäre Logik“ des „Wachstums um des Wachstums willen“ (S. 33). Der Autor spricht nicht von einer Revolution oder der gänzlichen Enteignung der Unternehmen, sondern plädiert für Reformen, die uns schrittweise in eine andere Wirtschaft führen würden: Die Langlebigkeit von Produkten gesetzlich vorschreiben und das gemeinsame Nutzen fördern; Lebensmittelvergeudung verbieten und Rindfleisch als ressourcenintensivstes Lebensmittel deutlich höher besteuern („fast 60 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen weltweit werden für die Erzeugung von Rindfleisch genutzt“, S. 247); Werbemöglichkeiten drastisch einschränken (560 Mrd. US-Dollar werden derzeit jährlich für Werbung ausgegeben, S. 242); Einkommen, Vermögen und Arbeit fair verteilen (globaler Mindestlohn und festgelegtes Maximaleinkommen, 20 Stundenwoche, 100 Prozent Besteuerung ab einer gewissen Vermögensgrenze); den öffentlichen Sektor sowie die Grundgüterversorgung ausbauen und das Finanzsystem auf staatliches Geld umstellen – Mieten und Schuldendienst seien „die Leibeigenschaft der modernen Zeit“ (S. 257); nicht zuletzt gehe es darum, unsere Bilder von Wohlstand zu verändern, was Ergebnisse der Zufriedenheitsforschung nahelegen. All das würde die Produktion und damit auch den Energie- und Ressourcenverbrauch drastisch senken, die Wirtschaft würde nicht weiterwachsen, die Menschen aber gut leben können in „radikaler Fülle“ (S. 260).

Hickel ist nicht gegen neue Technologien, etwa im Bereich der Energieerzeugung, geht aber davon aus, dass wir damit allein die Wende nicht erreichen werden. Grünes Wachstum sei daher nicht möglich, die Hoffnung auf CO2-Abscheidung trügerisch. Allein das 1,5 Grad-Ziel erfordere den vollständigen Ausstieg aus den fossilen Energien bis 2050, dies bedeute eine „rasche und drastische Umkehrung unserer derzeitigen Zielrichtung als Zivilisation“ (S. 160). An einer massiven Reduktion unseres Konsums führe kein Weg vorbei. Es läge aber nicht an den Konsument:innen, sondern an den Angeboten, die zu ändern seien. Ein Handy, das fünfmal so lange hält, ergäbe den gleichen Nutzen, es müsse aber am Markt vorhanden und vorgeschrieben sein. Um all das zu erreichen, setzt Hickel auf eine tatsächlich funktionierende Demokratie sowie auf eine gemäß Studien gegebene Mehrheit der Vernünftigen, denen das Gemeinwohl wichtiger sei als der Egoismus. Hickel pointiert: „Der Kapitalismus hat eine antidemokratische Tendenz, und die Demokratie hat eine antikapitalistische Tendenz.“ (S. 279)

Eine Fülle an Anregungen

Das Buch bietet eine Fülle an Studienergebnissen, Anregungen und Vorschlägen, die in der Ökologie- und Postwachstumsbewegung seit längerer Zeit diskutiert werden. Es verweist auf die Notwendigkeit einer neuen Verbundenheit mit allem nicht-menschlichen Leben und es appelliert an den Mut, Wirtschaft ganz anders zu denken. Wie die Wege in einen Postkapitalismus konkret umgesetzt und Mehrheiten dafür gefunden werden können, darüber müssen wir im Detail freilich weitersprechen.