Martin Arnold, Urs Fitze

Entmenschlicht

Ausgabe: 2022 | 4
Entmenschlicht

Martin Arnold und Urs Fitze legen mit Entmenschlicht ein Buch vor, das sich mit der Komplexität der Sklaverei einerseits als historisches Phänomen auseinandersetzt und andererseits ihre Kontinuitäten in einer kapitalistischen Gegenwart beschreibt. Auf knapp 200 Seiten erklären die Autoren globale Zusammenhänge zwischen Metropole und Peripherie und veranschaulichen diese an konkreten Beispielen. Durch eine klare und verständliche Sprache ist das Buch sowohl für Einsteiger:innen in das Thema geeignet, als auch für Personen, die sich der Breite des Themas bewusst werden wollen.

Ein historischer Rückblick

Einleitend bieten Arnold und Fitze einen skizzenhaften historischen Überblick, der v. a. geografische Räume wie Zentralamerika bzw. die karibischen Inseln aber auch zeitliche Perioden wie die Antike oder der Nationalsozialismus fokussiert. Die Autoren zeigen, dass die Sklaverei als maßgebliches Glied für unterschiedliche Formen von Gesellschaften und Hegemonien fungierte und schon lange Zeit in verschiedenen Machtformen von Bedeutung war. Eine besondere Stellung in ihrer Argumentation ist das ambigue Verhältnis des Kolonialismus zur Sklaverei: Die formale Abschaffung der Sklaverei im Rahmen der Antisklavereikonferenz in Belgien 1890 unter einem moralisierenden Deckmantel ermöglichte es den Kolonialist:innen den globalen Süden weiterauszubeuten – unter dem Vorzeichen der Bekämpfung der Sklaverei.

Dass mittlerweile in allen Staaten die Sklaverei verboten ist, vermag in Anbetracht der Geschichte als Erfolg für die Menschenrechte gelten. Dass mit dem Verbot der Sklaverei aber de facto keine Abschaffung der Sklaverei einhergeht, ist im kollektiven Gedächtnis allerdings weniger präsent. Die Neuauflage von Wir Sklaven von Suriname (Original: Wij slaven van Suriname, 2020) des Widerstandkämpfers Anton de Kom trug maßgeblich zur Diskussion über die Kontinuitäten der Sklaverei in einer neokolonialen Gesellschaft bei. In seinem wunderbaren 1934 erstmals veröffentlichten Buch stellt der Nachkomme eines surinamischen Sklaven überaus eindringlich dar, was dieser strukturelle Umbruch bedeutet. Besonders aus Sicht der ehemaligen Sklav:innen sind die Folgen fatal und die Zukunft von existentiellen Sorgen gezeichnet.

Auf diesen Umstand gehen auch Arnold und Fitze ein, wenn sie davon schreiben, dass „die Sklaverei unter anderen Vorzeichen weiterlebte.“ (S. 44) Ein fehlendes Privateigentum mache sie zu vulnerablen Gruppen. Dadurch wird den ehemaligen Sklavenhalter:innen bzw. Großgrundbesitzer:innen ermöglicht, Arbeiter:innen zu sklavenähnlichen oder -gleichen Bedingungen auszubeuten. Arnold und Fitze halten fest: „Die Sklaverei erhält ein neues Gesicht, Zwangsarbeit.“ (S. 44f.)

Davon ausgehend führen Arnold und Fitze ihre Besprechung über Formen der modernen Sklaverei fort. Festzuhalten ist, dass es keine Definition gibt, was moderne Sklaverei bedeutet – auch die Autoren gehen darauf nicht weiter ein, sondern führen Beispiele an, die auf ausbeuterische ungerechte Arbeits- und Existenzverhältnisse zurückgehen. Der Grund für die Beständigkeit der Sklaverei in neuer Form seien fehlende Sanktionen. Im Ausblick zeichnen sie allerdings nicht nur die Politik dafür verantwortlich, sondern auch das individuelle Konsumverhalten und das eigene fehlende Bewusstsein für ausbeuterische Arbeitssituationen.

Der Hauptteil des Buches geht nun näher auf dieses neue Gesicht der Sklaverei, der Zwangsarbeit, ein. Anhand der verschiedenen Feldern, die sowohl den privaten wie auch den öffentlichen Bereich abdecken, zeigen Arnold und Fitze eindrücklich die unterschiedlichen Schattierungen des modernen Sklavereibegriffes. Diese finden sie etwa im Haushalt und der Pflege, im Menschenhandel, der Schuldknechtschaft, als Kindersoldaten und in der Kinderarbeit, in Zwangsehen, in Kasten- oder Wertschöpfungsketten und der Digitalisierung wieder. Die Ausführungen werden begleitet bzw. ergänzt von Interviews, etwa mit Doro Winkler, einer Beraterin für Frauenmigration, Feliciano, einem brasilianischen Landarbeiter und Dolkun Isa, einem chinesischen Aktivist. Die global ausgewählten Beispiele zeigen die Breite des Feldes, in der moderne Sklaverei zu finden ist. Die Ergänzung mit Stimmen aus dem Aktionismus und von einer betroffenen Person unterstreichen die unterschiedlichen Facetten, während sie gleichzeitig zum polyphonen Stil des Buches beitragen, das sich das Thema zu eigen macht, anstatt bloß darüber zu berichten.

Moderne Sklaverei als strukturelles Problem

Die ausgewählten Beispiele zeigen, dass moderne Sklaverei keine Handlung ist, die in der Ferne passiert, sondern ein strukturelles Problem, das uns alle betrifft. Eine spannendes Feld eröffnen die Autoren mit der Diskussion um Kindersoldaten, das sie am Beispiel des 2021 in Den Haag verurteilten ehemaligen Kindersoldaten Dominic Ongwen aufmachen. Ongwen wurde als Kind verschleppt und ist später als Kommandant einer Gruppe der Lord Resistance Army in Uganda für zahlreiche schwere Verbrechen verantwortlich. Obwohl er als Kind große Brutalität erlebt hat, fügt er sich dem System, in dem er aufsteigt und selbst zu größten Grausamkeiten fähig wird. Rund um seinen Fall wurde die Frage der Transformation von Opfer zu Täter besprochen, die in Ongwens Beispiel eine neue Dynamik entwickelte und grundsätzliche Fragen nach Schuld und Zwang neu entfachte.

Armut, soziale Ausgrenzung und die fehlende Durchsetzung von Gesetzen führen dazu, dass die moderne Sklaverei in unterschiedlichen Facetten auch heute weiterbesteht. Bildung und Aufklärungsarbeit – ein Bereich, den die Autoren außen vor lassen – sind sicherlich als wichtige Parameter zu nennen, dem entgegenzuwirken. Allerdings, so halten Arnold und Fitze in der postkolonialen Tradition nach Gayatri Spivak und Arundhati Roy fest, wurden Betroffene durch Machtasymmetrien zum Schweigen gezwungen. Wir, die nicht unter Zwangsarbeit leiden, können aber hinhören und hinschauen – so das Plädoyer der Autoren. Beides ist mit Entmenschlicht sehr gut gelungen.