Gewalt

Ausgabe: 2012 | 1

Die Mordraten gehen zurück. Die Anzahl territorialer Konflikte geht zurück. Die staatliche Tolerierung von Todesstrafe und Sklaverei geht zurück. Steven Pinker hat Daten zusammengetragen und sie auf gut 1000 Seiten aufbereitet, erklärt und versucht, daraus Sinn zu machen. Sein Buch „Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit“ liefert die Argumente, die man im Umgang mit Kulturpessimisten braucht. Zuerst aber zu den Kernargumenten des Werkes, vor allem zur Beschreibung des Fortschritts der Menschheit. Pinker identifiziert sechs Trends in der Entwicklung der Menschheit, die allesamt einen Rückgang der Gewalt dokumentieren. Da wäre erstens der Übergang von der anarchischen und gewalttätigen Gesellschaft der Jäger und Sammler zu den ersten landwirtschaftlich geprägten (Hoch-)Kulturen. Zweitens kommt es zwischen dem Spätmittelalter und dem 20. Jahrhundert zu einem Rückgang der Mordquote um 90 bis 98 Prozent. Drittens entwickelt sich mit der Aufklärung ein breites Bewusstsein, das Gewaltherrschaft, Sklaverei, Folter und Tötung durch Aberglauben infrage stellt. Viertens kommt es nach 1945 zum Ende der direkten Konfrontation der Großmächte. Fünftens gehen die organisierten Konflikte wie Bürgerkriege, Völkermorde, sogar die Anzahl der Terrorakte und die Anzahl der Terrorregime seit 1989 zurück. Und schließlich kann man weltweit steigende Ablehnung von Unterdrückung gegenüber ethnischen Minderheiten, Homosexuellen und Frauen messen. Wie aber passt das zum Holocaust, den „ethnischen Säuberungen“ in Ruanda und Jugoslawien und zum Aufstieg des Rechtspopulismus in den vergangenen dreißig Jahren? „Die schreckliche Wahrheit lautet: Bis vor kurzer Zeit hielten die Menschen den Völkermord nicht für etwas sonderlich Schlimmes, solange er nicht ihnen selbst widerfuhr.“ (S. 497) „Der Wendepunkt kam nach dem Krieg. (…) Nach der Zerstörung des europäischen Judentums durch die Nazis war die Welt wie vor den Kopf gestoßen von den ungeheuerlichen Opferzahlen und von den entsetzlichen Bildern aus befreiten Konzentrationslagern. (...) Heute fühlen sich die Holocaust-Leugner wenigstens verpflichtet, zu leugnen, dass der Holocaust stattgefunden hat. In früheren Jahrhunderten hätten die Täter und ihre Sympathisanten damit geprahlt.“ (S. 498) Für die Zeit nach 1945 verweist Pinker auf zwei große Untersuchungen von Barbara Harff und Rudolph J. Hummel, die den Genozid in Ruanda und den Krieg im ehemaligen Jugoslawien berücksichtigen und trotzdem den tendenziellen Rückgang der Todesrate durch Genozid bestätigen. Steven Pinker untersucht in seinem Buch weiters, welche psychischen Mechanismen Aggression produzieren. Er nennt dabei räuberische oder ausbeuterische Gewalt, Herrschaftsstreben, Rache, Sadismus und Ideologie. Ihnen gegenüber stehen vier Motive, mit denen der Mensch von Anfang an ausgestattet sei: Empathie, Selbstbeherrschung, Moralgefühl und die Fähigkeit der Vernunft. Im Schlusskapitel des Buches stellt Pinker schließlich die fünf historischen Kräfte vor, die seiner Meinung nach das Zurückdrängen von Gewalt in der Menschheitsgeschichte ermöglichten. Zuerst nennt er das Gewaltmonopol des Staates und dessen Justiz. Dann spricht er von wirtschaftlicher Zusammenarbeit und Vernetzung. Handelspartner sind nur als Lebende nützlich. Dritte Kraft ist die Feminisierung der Gesellschaft. „Da Gewalt im Wesentlichen ein Zeitvertreib der Männer ist, entfernen sich Kulturen, die den Frauen mehr Macht geben, in der Regel von der machohaften Verherrlichung der Gewalt, und es besteht eine geringere Wahrscheinlichkeit, dass sie gefährliche Subkulturen aus entwurzelten jungen Männern hervorbringen.“ (S. 18). Weiters führt ein durch Bildung, Reisen und Massenmedien entwickeltes Weltbürgertum dazu, dass eine regionale Eingrenzung des Mitgefühls, der Empathie immer schwieriger wird. Und schließlich ist unser Gebrauch der Vernunft hilfreich zu erkennen, dass Kreisläufe der Gewalt sinnlos sind. Pinkers Buch füllt das Arsenal der Optimisten vor allem mit Daten, die fein sortiert vorgelegt werden. Diese Daten sind die Stärke des Buches. Die Erklärung, warum Gewalt zurückgeht, basiert auf einer wesentlich dünneren Argumentation und vor allem hier setzt die bisher vorliegende Kritik unter anderem von John Gray (Prospect-Magazine, Nr. 187) an. Dabei kann man die einzelnen Bausteine kritisieren: Welches Staatsverständnis besteht, wenn man den Staat als Friedensstifter heranzieht, was genau ist „Feminisierung“? Wichtiger aber ist die Frage, ob Pinker nicht einen neuen teleologischen Versuch startet, das Wirken der Aufklärung als heilsbringend zu bestimmen. Dagegen steht eine starke philosophische Tradition in Deutschland und Frankreich, deren Ablehnung dieser These sehr überzeugend ist. Pinkers Gegenargument sei am Beispiel des Nationalsozialismus dokumentiert: „Der Gedanke, der Holocaust sei eine Folge der Aufklärung, ist lächerlich, wenn nicht gar obszön. Wie wir im Kapitel 6 erfahren haben, betraf die große Veränderung im 20. Jahrhundert weniger das Auftreten von Völkermord als vielmehr die Erkenntnis, dass Völkermord etwas Schlechtes sei. Die technischen und bürokratischen Besonderheiten des Holocaust sind, wenn es um die Einschätzung des Schadens in Form von Menschenleben geht, ein Nebenschauplatz; für Massenmord sind sie, wie die blutigen Macheten des Völkermordes in Ruanda gezeigt haben, unnötig. Die nationalsozialistische Ideologie war wie die nationalistischen, romantisch-militaristischen und kommunistischen Bestrebungen der gleichen Epoche keine Fortsetzung der Denkrichtung, die Erasmus von Rotterdam, Bacon, Hobbes, Spinoza, Locke, Hume, Kant, Bentham, Madison und Mill verbindet, sondern eine Frucht der Gegenaufklärung des 19. Jahrhunderts.“ (S. 955). Nichtsdestotrotz: Der Datenteil des Buches hilft, klar zu denken, subjektive Erfahrungen einzuordnen und klarer zu sehen, welche Formen der Gewalt an Bedeutung verlieren. Ob auf dieser Grundlage Voraussagen für den Siegeszug der Aufklärung möglich sind, ist eine andere Sache. S. W.

 

Pinker, Steven: Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2011. 1212 S., € 26,00 [D], 26,80 [A], sFr 44,20