Die Frage nach der Vergleichbarkeit von Holocaust und den Verbrechen des Kolonialismus war schon häufig Anlass von politischen, historischen, soziologischen und kulturwissenschaftlichen Debatten. Der Soziologe Natan Sznaider legt mit seiner Monografie „Fluchtpunkte der Erinnerung“ eine tiefgreifende Studie vor, die nicht nur die Anfänge und Entwicklungen dieser Diskussionen beschreibt, sondern auch die Frage analysiert, wie verschiedene Formen der Erinnerung miteinander verwoben oder zueinander konkurrierend sind.
Sznaider sieht den Ausgangspunkt in der Verleihung des Münchner Geschwister-Scholl-Preises 2015, einer Auszeichnung für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, an Achille Mbembe für seine rassismus- und globalisierungskritische Arbeit „Kritik der schwarzen Vernunft“ (Suhrkamp, 2014). Erstmals wurde einer Schwarzen Person dieser Preis verliehen, der nicht im direkten Zusammenhang mit Erinnerungspraktiken an die nationalsozialistischen Verbrechen stand. 2020 wurde Mbembe als Festredner am Kulturfestival Ruhrtriennale eingeladen, was zu großem Widerstand führte. Sznaider zufolge verhärteten sich mit diesen zwei Ereignissen rund um Mbembe die Fronten und stießen eine größere Diskussion über die Erinnerungskultur in Deutschland an. Kritiker:innen von Mbembe sprachen dem Historiker und Philosophen etwa eine Relativierung des Holocausts zu, da er u. a. mit der „Conditio Nigra“ eine Gegenfigur des universalisierten Juden nach Hannah Arendt geschaffen hat. Für Sznaider ist daraufhin klar, dass die Erinnerungen an den Holocaust in einem größeren Diskurszusammenhang untersucht werden müssen. Mit in teils degradierenden Äußerungen stritten die Akteur:innen der beiden Seiten intensiv darüber, welche Verbrechen der Menschheitsgeschichte als schwerwiegender zu beurteilen seien. Ihnen gemein ist die Frage, wem das viel zitierte „Nie wieder“ der Nichtwiederholung der Katastrophe gelte. Während Sznaider aus einer wissenschaftlichen Position die Politik der Erinnerungsdiskurse analysiert, hält er dennoch fest, dass das „Nie wieder“ dieser Diskurse immer recht hat und als vereinendes Argument gilt. Gleichzeitig räumt er ein, dass Vergleiche zwischen Holocaust und den Verbrechen des Kolonialismus eigene Erfahrungen herunterspielen. Versuche von Synthesen, wie etwa bei Arendt, würden tendenziell kontrovers bewertet werden. Dennoch sei das Bemühen um ein „tiefere[s] Verständnis von verflochtener Geschichte“ (S. 17) ein guter Ansatzpunkt, so Sznaider, dieser Diskussion zu begegnen. Die Argumentation der „entangled histories“ ist schließlich auch der postkolonialen Theorie entlehnt (vgl. Sebastian Conrad, Shalini Randeria) und versucht, unterschiedliche Erinnerungsdiskurse der Kolonien sowie den ehemals kolonialisierten Kulturen miteinander zu betrachten. Im deutschsprachigen Raum stehen diese Auseinandersetzungen allerdings noch am Anfang, sodass sich die Erinnerungslandschaft nach wie vor aus zwei partikularen Erzählungen zusammensetzt.
Sznaiders Buch ist in vielerlei Hinsicht versöhnend und zwischen den unterschiedlichen Positionen moderierend. Es geht ihm weniger darum, selbst Stellung zu beziehen, sondern die unterschiedlichen Argumentationsstränge und die dahinterliegende Politik zu beschreiben. Sznaider lädt zur Reflexion ein, wenn es etwa in der Einführung heißt: „Könnten beide Seiten von ihrem jeweiligen Standpunkt aus recht haben? Ist das in einer solchen Debatte überhaupt möglich, oder ist es möglich, jenseits der politischen Einstellung hier die Wahrheit zu finden?“ (S. 21) Eine große Empfehlung – auch vor dem Hintergrund der aktuellen Weltpolitik!