Andreas Kossert

Flucht

Ausgabe: 2021 | 3
Flucht

„21.1.45 Befehl zum Verlassen meines Hofes.“ (S. 13) Mit dieser kurzen Notiz beginnt die Fluchtgeschichte des masurischen Bauers Friedrich Biella und seiner Familie. Ihr Schicksal steht symbolisch für unzählige vertriebene und geflüchtete Menschen, welchen Andreas Kossert eine Stimme verleiht und sie so aus der Anonymität der Gruppe Flüchtling hervorholt. Mittels Fotografien, Tagebucheinträgen aber auch literarischen Aufarbeitungen dokumentiert der Historiker die Grausamkeiten kriegerischer Auseinandersetzungen und territorialer Grenzverschiebungen bis zurück ins 18. Jahrhundert. Dennoch ist Flucht – Eine Menschheitsgeschichte mehr als eine einfache Aneinanderreihung persönlicher Erzählung-en. Das Mosaik aus Erfahrungen unterschiedlicher Epochen und politischen Kontexten ermöglicht es, in der Gesamtbetrachtung die grundlegenden Merkmale von Flucht und Vertreibung zu erkennen. Denn es ist unerlässlich, ob eine Vertreibung im 18. oder 21. Jahrhundert stattfindet, die (seelischen) Wunden der Geflüchteten gleichen einander. „Entwurzelung ist eine biographische Zäsur, und sie erledigt sich nicht mit der Zeit, sondern währt vielfach als kollektive Erfahrung fort.“ (S. 336)

Über komplexen Zusammenhänge

Einleitend werden Leser:innen mit einer geschichtlichen Aufarbeitung des Begriffes „der Flüchtling“ konfrontiert, welche für sich alleinstehend bereits aufschlussreiche Einblicke in die komplexen Zusammenhänge von Fluchtursache, Ankommen und Selbstbild der Betroffenen ermöglicht. Daran anschließend werden im Kapitel „Heimat. Von den Ambivalenzen eines Gefühls“ die Phasen des Weggehens und Ankommens der Betroffenen beschrieben. In Sicherheit zu sein ist dabei nur ein Teil des Weges. Sich in der Fremde heimisch zu fühlen, verlangt oft mehr, als ein Mensch zu leisten im Stande ist: nämlich die überwältigende Sehnsucht nach der alten Heimat zu stillen, die ein emotionales Ankommen in der Fremde für viele lebenslang unmöglich macht. Hinzu kommen gesellschaftspolitische Hürden, wie die Hilfsbereitschaft von Einheimischen: „Wohin man auch schaut: Flüchtlinge gelten als Bedrohung. [...] Das ist in den Jahren nach den beiden Weltkriegen so, als die Aufnahmegesellschaften selbst mit Problemen zu kämpfen haben, und das ist immer noch so, als der allgemeine Wohlstand ein Niveau erreicht, wie niemals zuvor in der Geschichte: Anfang der 1990er Jahre“. (S.235)

Ein tiefgehender Eindruck, eine nachhaltige Wirkung

Flucht – eine Menschheitsgeschichte bietet keine Handlungsanleitungen oder gar Patentrezepte im Umgang mit Flucht, aber es vermittelt einen tiefgehenden Eindruck der lebenslangen Belastungen von Geflüchteten oder Vertriebenen, was bei Leser:innen eine nachhaltige Wirkung erzielt. „Flüchtlinge und das, was sie erleben und erleiden, führen uns vor Augen, wie zerbrechlich unsere scheinbar so sichere Existenz ist.“ (S.355) Für diese Leistung wurde das Buch zu Recht verschiedentlich ausgezeichnet, unter anderem als „Das politische Buch“ 2021 der Friedrich-Ebert-Stiftung und mit dem NDR Kultur Sachbuchpreis 2020.