Ewald Frie

Ein Hof und elf Geschwister

Ausgabe: 2024 | 2
Ein Hof und elf Geschwister

„Der Text ist ein Grenzfall, von Wissenschaft wie von Familiensinn“ (S. 16) – erklärt  der Historiker Ewald Frie gleich zu Beginn, um deutlich zu machen, welche Rolle er als Schreibender einnimmt, wenn er die Geschichte seiner Familie rekonstruiert und damit ein Zeugnis zur Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland liefert, aus dem Blickwinkel einer katholischen Bauernfamilie. Elf Geschwister hat Frie, geboren zwischen 1944 und 1969, deren geschilderte Erlebnisse und Bewertungsmuster einen gesellschaftlichen Wandel veranschaulichen, der über Jahrzehnte reicht, der Sinngebungsprozesse wie Umbrüche verstehen lässt. Immer wieder ergänzt Frie die subjektiven Wahrnehmungen seiner Geschwister mit eigenen Archivrecherchen, kontextualisiert sie im Rahmen des gegenwärtigen Forschungsstandes und baut damit ein umfassendes Bild.

Frie macht vier miteinander verwobene Bereiche auf, hinter denen als Langzeittrend die Auflösung der bäuerlichen Gesellschaft steht. Das Ausmaß und die Geschwindigkeit von Veränderung wird durch den Vergleich der verschiedenen Stimmen deutlich, deren Perspektive sich gerade aufgrund von Geschlecht und Jahrgang immens unterscheidet. Als erstes nennt Frie die „verschwiegene Zeit des Nationalsozialismus“ (S. 162) und erkennt darin einen direkten wie indirekten Grund für vieles, was er beschreibt. Zweitens liegt ein Fokus auf der Rinderzüchterwelt des Vaters, ein Aspekt, der gerade in den 1950er-Jahren das Familienleben entscheidend prägte, aber hernach sukzessive an Bedeutung verlor. Drittens wird auf den Bereich des Reformkatholizismus der 1960er-Jahre hingewiesen, der nicht nur Aufgabengebiete der Mutter veränderte, sondern auch die Form der Alltagsreligiosität. Viertens weist Frie auf neue Formen der Jugendkulturen in den 1980er-Jahren hin, die nicht zuletzt mit einer Annäherung an die nächstgrößere Stadt Münster einherging.

Indem Frie von diesen vier Welten erzählt, erfahren wir von sich verändernden Arbeits- und Freizeitmöglichkeiten, von einer Technisierung der Landwirtschaft, Klassenunterschieden, politischem und kirchlichem Engagement, sich verändernden Formen von Emanzipation wie auch Chancen durch staatliche Bildungsförderungen und Altersabsicherung. Durch das bedachte Ineinanderschieben und Auseinandernehmen, durch das Heran- und Herauszoomen, entsteht schlussendlich eine kurzweilig geschriebene, eine empfehlenswerte Lektüre.