Nach der Lektüre der ersten Seiten steht für mich fest: Ich nutze nie wieder das Internet. Zwar war mir bewusst, dass meine „Krümelspur“ von vielen interessierten Datensammler:innen erfasst wird, aber die Reichweite der Implikationen für meine individuelle und die gesellschaftliche Freiheit nicht. Doch es wird schnell klar, dass, obwohl die digitale Askese eine Lösung wäre, sie weder sinnvoll noch gangbar ist. Die digitale Informationsgesellschaft birgt viele Potenziale, die derzeit durch die Macht und Kontrolle einiger weniger privatwirtschaftlicher Unternehmen überlagert werden.
Ein Experte im Bereich der digitalen Informationsgesellschaft
Hier schreibt einer, der sich selbst viele Jahre dieser Mammutaufgabe gestellt hat und sich dabei nicht nur Freund:innen gemacht hat (Google, Facebook und Co.) und nicht immer auf eine breite Unterstützung von Politik und Gesellschaft setzen konnte. Eine Person, die wenigen von uns bekannt sein dürfte, obwohl sie 2020 von Politico Europe zu den 28 einflussreichsten Europäer:innen gezählt wurde.
Johannes Caspar, Jurist und Rechtsphilosoph, langjähriger Hamburgischer Beauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit sowie Vertreter der unabhängigen deutschen Datenschutzbehörden der Länder im Europäischen Datenschutzausschuss in Brüssel lehrt heute an der Universität Hamburg und ist Vorsitzender des Beirats von Transparency International Deutschland. Kurzum: Ein ausgewiesener Experte auf seinem Feld.
Ein Datenschützer, noch dazu einer, der früh erkannte, welche Bedeutung Daten in der Zukunft (also heute) haben werden, und wie wichtig es sein wird, die demokratische und gesellschaftliche Kontrolle darüber zu behalten, statt sie in die privatwirtschaftlich agierenden Hände einiger weniger (vorwiegend) amerikanischer Hände zu übergeben. In seinem Buch arbeitet Johannes Caspar heraus, dass die Tragweite des Schutzes unserer persönlichen Daten in einer digitalen Welt größer nicht sein könnte und Datenschutz von einem nervigen Alltagserlebnis (Wir verwenden Cookies…) zu einem zentralen politischen und gesellschaftlichen Thema im 21. Jahrhundert werden muss. Er ruft dazu auf, endlich unsere „Naivität, was die Bedeutung von Daten in der digitalen Moderne betrifft“ (S. 234) abzulegen. Johannes Caspar möchte mit seinem Buch Vorschläge und Ansätze entwickeln, wie das System verändert werden kann, um einen menschengerechten und transparenten Zugang zur digitalen Welt für alle zu ermöglichen.
Die Grundprämisse von Caspars Analyse lautet: „Es ist der Mensch selbst, der in der digitalen Moderne mit den Verzeichnissen seiner Identität, mit seinen Daten, zur Ressource des gesellschaftlichen und ökonomischen Wandels geworden ist“ (S. 60). Wir Menschen sind zur zentralen Ressource des Datenkapitalismus geworden, und die Fähigkeit, (große Mengen von) Daten zu verarbeiten, ist eine Herrschaftsmacht, die derzeit vor allem von Privatunternehmen mit Partikularinteressen, potenziell aber auch vom Staat ausgeht (siehe China; Kapitel 6).
In den ersten Kapiteln des Buches spürt Johannes Caspar dem Funktionieren des Datenkapitalismus auf individueller Ebene nach: Was bedeutet das für den Einzelnen? Warum machen wir so bereitwillig mit? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus? Die „Ambivalenz des Digitalen“ (Kapitel 5), die sich darauf bezieht, dass „Technik […] weder böse noch gut [ist]“ und wir selbst dafür verantwortlich sind, wie und wofür wir sie nutzen, übersetzt sich bei mir als Leser in eine Ambivalenz der Reaktion. Die Notwendigkeit des Handelns wird deutlich, auch werden Möglichkeiten des Wie (vor allem in späteren Kapiteln unter Einbeziehung der europäischen legislativen Anstrengungen) erläutert, aber dem entgegen steht die Ernüchterung auch Caspars selbst, wenn es um die Bändigung globaler Datenkonzerne und das Austarieren geopolitischer Machtgefüge geht.
Der Schlüssel für das Gelingen unserer Gesellschaftsform und damit der Erhalt der Freiheit liegt in der „informationellen Integrität“. Sie soll „nicht nur Freiheit und Selbstbestimmung [schützen], sondern auch die Gleichheit der Menschen“ (S. 243). Sie soll uns davor bewahren, dass unsere Daten (der falsche Wohnort, die falschen Gene) gegen uns verwendet werden können und so die „entsolidarisierenden Effekte über eine personelle Individualisierung durch Daten“ (S. 243) verhindern.
Johannes Caspar ermöglicht neue Sichtweisen
Johannes Caspar unternimmt dann noch die Anstrengung, die EU-Digitalgesetzgebung inklusive ihrer Stärken und Schwächen zu erläutern, räumt mit dem einen oder anderen Missverständnis auf, sodass ich sie nach der Lektüre des Buches mit anderen Augen sehe. Im abschließenden Kapitel macht Johannes Caspar noch einmal deutlich, was zur Wahrung unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Europa nötig sein wird – und wie schwierig dies zu erreichen sein wird.