Die Serenissima. Ein Modell für Europa

Ausgabe: 1996 | 2

Mit ihrer 1100-jährigen Geschichte von 697 bis 1797 stellte die Stadtrepublik Venedig nicht nur den Rekord für das langlebigste unabhängige Staatswesen Europas auf, sondern spielte auch eine politische, technische und kulturelle Führungsrolle, deren Bedeutung im Laufe der Jahrhunderte zunahm, als Venedig seine ehemals führende wirtschaftliche Macht im Mittelmeer in den Kämpfen gegen das osmanische Reich verlor. Karbe unternimmt eine tiefgehende und detailreiche Analyse der politischen, kulturellen und kommunikativen Überlebensstrategien Venedigs, deren Evolution gut dokumentiert ist. Im Hinblick auf die Erkenntnis, daß wer die Geschichte nicht kennt, sie zu wiederholen gezwungen ist, stellt Venedig ein einzigartiges Modell gesellschaftlicher Experimente und Rezepte dar, das besonders heute im Zuge von Globalisierung und Verlagerung der weltwirtschaftlichen Kräfte auf Informationen und Telekommunikation hochaktuell ist. Die Gestaltung einer globalen Zukunft auf der Basis von Informations- und Kommunikationsindustrien sieht sich vor der Herausforderung sowohl der politischen Strukturgebung als auch der ökonomisch-ökologischen Realisierung und Wertschöpfung. Die neuen Multimedianetze müssen in eine ihrem Potential gemäße politische Struktur eingebunden werden, die den völlig veränderten kommunikativen Bedingungen Rechnung trägt. Am Beispiel Venedigs zeigt Karbe, wie man damals ein den kommunikativen Strukturen eines Tausende Kilometer umspannenden HandeIsnetzes entsprechendes politisches System konstruierte, das in seiner nicht-hierarchischen Organisation den Erfordernissen dezentraler Intelligenz und Aktionsfähigkeit optimal entsprach (Kap. 1-2). Diese verteilte Intelligenzstruktur war es dann, die Venedig über den Verfall seiner wirtschaftlichen Macht hinweg für weitere 300 Jahre ein komfortables Überleben in einer sich konsolidierenden Szene europäischer Nationalstaaten, hierarchisch organisierter Finanz- und Militärmächte, sichern konnte. Venedig entwickelte sich in dieser Epoche zum europäischen Zentrum für Kommunikation, Kultur und Lebensstil (Kap. 5-7). Diese Perspektive kann heute für Europa. das seine ehemalige Rolle als globales Machtzentrum aufgegeben hat, entscheidend sein: Das Beispiel der Serenissima zeigt die vielfältigen Möglichkeiten einer kommunikativen und kulturellen Renaissance eines Europa der Regionen, dessen Hauptkapital das Erbe von 5000 Jahren Kulturschöpfung, verbunden mit dem bodenständigen, eigen-initiativ tätigen Kreativitäts-Potential seiner Bevölkerung ist. Für diese Aspekte bieten die letzten Kapital von Karbes Buch reichhaltiges Material für Anregungen und Weiterentwicklungen. A.G.

Karbe, Lars C.: Venedig oder die Macht der Phantasie. Die Serenissima - ein Modell für Europa. München: Diederichs. 1995. 436 S.