Martin Schürz ist Ökonom und Psychotherapeut. Er forscht seit mehr als zwei Jahrzehnten zur Vermögensverteilung in Europa und lehrt u.a. an der Wirtschaftsuniversität in Wien. In seinem Buch Überreichtum argumentiert Martin Schürz, dass es nicht reicht, Armuts- und Reichtumsstatistiken zu erstellen – so wichtig diese sind –, sondern dass wir darauf schauen müssen, wie über Armut und vor allem auch über Reichtum gesprochen (oder nicht gesprochen) wird, welche Gefühle damit verbunden werden, welche Bilder zu Armut und Reichtum konstruiert, welche Begriffe verwendet werden – Schürz spricht daher bewusst nicht von „Superreichen“, sondern von „Überreichen“: „Der Begriff überreich beinhaltet das Urteil, dass jemand zu viel hat. Das zu viel kann quantitativ bezogen werden auf eine bestimmte Vermögenshöhe. Menschen sind aber auch überreich, wenn sie auf Basis ihres Vermögens Gerechtigkeitsprinzipien verletzen, die Demokratie gefährden und andere Personen verletzen.“ (S. 12) Es gehe nicht nur um das quantifizierbare Vermögen, sondern auch um die Macht, die damit verbunden ist: „Reiche haben nicht nur mehr Ressourcen, sondern sie haben auch mehr Möglichkeiten.“ (S. 13)
Die Rolle der öffentlichen Debatte über Reichtum ist für Schürz zentral und beeinflusst die politischen Schlüsse daraus: „Wer Reichtum als positives Leitbild empfindet, wird andere Fragen für wichtiger erachten als jemand, der in Reichtum eine Ursache von Armut vermutet. Wer Reiche als Leistungsträger sieht, wird stärker auf Bildung, Einstellung und Haltung der Armen achten als auf eine progressive Vermögensbesteuerung und Umverteilung.“ (S. 42f) Der Sozialstaat basiert auf der Überzeugung, soziale Risiken der Bürger und Bürgerinnen abzufedern. Zugleich wirkt dieser, wie Studien zeigen, in gewisser Weise umverteilend in Richtung sozial Benachteiligter. Schürz zeigt aber, wie übrigens auch Katharina Pistor in Der Code des Kapitals (s. pro zukunft 2021/2), dass der Staat auch die Reichen schützt: „Wenn es um die Geheimhaltung der Vermögen der Reichen geht, ist gern von notweniger ‚Diskretion‘ die Rede. Bei Sozialhilfeempfängern wird der Begriff nie verwendet. … Doch gerade die Vermögenden empfangen viel vom Staat, nur gesehen und thematisiert wird es kaum.“ (S. 44f)
Der Stellenwert von Gefühlen werde bei Diskussionen um Reichtum oft vernachlässigt, so eine weitere These des Buches: „Es dominieren Gerechtigkeitsfragen und moralische Urteile“ (S. 139). Doch die Zuschreibung von Gefühlen spiele eine wichtige Rolle in der Legitimation von Reichtum: „Negative Gefühle wie Neid und Hass werden eher den Armen als Laster zugeschrieben, Großzügigkeit und Mitleid den Überreichen als Tugenden“ (S. 12). Dazu passe auch die Philanthropie: „Die reichen Spender zeigen mit ihren großzügigen Spenden eher, dass sie märchenhaft reich sind als unvorstellbar generös.“ (S. 126) Philanthropie sei für reiche jedoch funktional: „Die negativen Folgen der Vermögenskonzentration für das Gemeinwesen sind weniger sichtbar als die Wohltaten der Überreichen.“ (S. 127) Spendentätigkeit lasse die Reichen in einem positiven Licht erscheinen und erschwere deren angemessene Besteuerung: „Während bei der Philanthropie der Überreichen die Höhe der gespendeten Beiträge in den Medien fasziniert, ist es bei Erbschaftssteuern umgekehrt: Steuersätze, die bei Arbeit akzeptiert werden, werden beim Erben als Enteignung verstanden.“ (S. 90)
Unterschiedliche Debattenstränge über Reichtum
Schürz skizziert in seinem Buch die unterschiedlichen Debattenstränge über Reichtum - von der moralischen über die gerechtigkeitsbezogene bis hin zur leistungsorientierten Argumentationsweise, wobei er zahlreiche historische Bezüge bis hin zur Philosophie der Antike herstellt. Er verweist als Psychologe auf die Bedeutung emotionaler Attribuierungen und Erzählungen über Reichtum und die Reichen. Als Ökonom und Mitgestalter eines europäischen Vermögensregisters („Household Finance and Consumption Survey“) verneint Schürz aber keineswegs die Wichtigkeit transparenter Reichtumsstatistiken: „Wenn die Bevölkerung wenig über die Vermögensverteilung weiß, kann sie auch nicht nach rationalen Legitimationen von Reichtum fragen und keine und keine Umverteilungsforderung an den Staat richten.“ (S. 33) Im Buch findet man auch frappierende Daten: Das reichste Prozent der Welt (ungefähr 45 Millionen Menschen) hat demnach ein Durchschnittsvermögen von rund 3 Millionen Euro: „Dies ist das Fünfzigfache des weltweiten Durchschnittsvermögens und macht einen Anteil von etwa 50 Prozent am gesamten Vermögen aus.“ (S. 35) Dass Reiche Reichtum anders wahrnehmen als Durchschnittsverdiener:innen macht folgendes Beispiel deutlich: „Millionäre mit ein paar Millionen Euro nehmen erst Millionäre im zweistelligen Millionenbereich als reich wahr, während arme Menschen Reichtum bereits bei 100 000 Euro beginnen lassen.“ (S. 29) Schürz setzt aber schließlich auf die Möglichkeit eines offenen Austauschs mit den Reichen: „Ein armer Mensch mag die extreme Reichtumskonzentration nicht sehen wollen, weil sie ihn ohnmächtig stimmt, ein überreicher Mann will sie vielleicht nicht wahrnehmen, weil sie ihm unangenehme Schuldgefühle macht. … Würden Arme und Reiche aber miteinander sprechen, so könnten sie sich vielleicht sogar auf gewisse Gerechtigkeitsprinzipien einigen.“ (S. 140)
Ein wichtiges Buch, das auf eine faire Verteilung des weltweiten Vermögens pocht und den Beginn dazu in einer veränderten öffentlichen Debatte über Reichtum sieht.