Geert Mak

Große Erwartungen

Ausgabe: 2021 | 2
Große Erwartungen

Was ist, dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges, aus dem alten europäischen Traum – Frieden, Freiheit und Wohlstand – geworden, der immer mehr zum Albtraum wird? Mit dieser Frage kündigt der Verlag den Band Große Erwartungen des niederländischen Historikers und Journalisten Geert Mak an. In seinem 2005 erschienenen Bestseller In Europa hatte Mak das 20. Jahrhundert mit seinen Katastrophen und Aufbrüchen bis herauf zur Euphorie zu Beginn des neuen Millenniums beschrieben. Zwanzig Jahre danach stellt er die Frage, was aus den Erwartungen geworden ist. Die Faszination auch dieses Buches liegt in der Gabe des Autors, politische Geschehnisse, gesellschaftliche Ereignisse und Stimmungen in persönlichen Begegnungen mit Menschen aus vielen Teilen Europas zu schildern. Mak lässt sich ein auf Gespräche mit Intellektuellen, journalistisch Tätigen, Experten und Expertinnen oder einfachen Menschen auf der Straße. Und er nimmt uns an die Schauplätze der politischen Macht, etwa die Regierungsviertel in Brüssel, ebenso mit wie an die entlegensten Orte des Kontinents. So beginnt das Buch mit Schilderungen aus der nördlich gelegenen norwegischen Grenzstadt Kirkenes. Grenzmilitär berichtet, dass seit den Spannungen wegen der Rohstoffe in der Arktis die jährlichen Fußballturniere mit den russischen Teams ausgesetzt sind, auch wenn die Kontakte noch immer kollegial seien.

Ein spannender Rückblick

Jedes der von 1999 bis 2020 behandelten Jahre stellt Mak unter ein Motto bezogen auf ein Schlüsselereignis – mit „Angst“ (2001) ist etwa das Kapitel über die Terroranschläge auf die Twin Towers und den diesen folgenden „Krieg gegen den Terror“ umschrieben, mit „Größe“ (2004) jenes zur Erweiterung der EU inklusive der Enttäuschungen der Bürgerinnen und Bürger der neuen Mitgliedsländer, weil sich der wirtschaftliche Aufschwung nicht wirklich einstellt. Thema ist auch die 2005 gescheiterte Europäische Verfassung sowie der ersatzweise verabschiedete Vertrag von Lissabon, der Europa zur stärksten Wachstumsregion der Welt machen sollte. Ein weiteres Kapitel „Zahlen“ verweist auf die zu tausenden Ertrunkenen im Mittelmeer. Mak gibt hier Statistiken wie-der und kommentiert kühl: „Das massenhafte Ertrinken der Armen aus Afrika wurde im Europa des 21. Jahrhunderts so normal, dass die Medien sich bald kaum noch dafür interessierten.“ (S. 142) Den Finanzrausch der beginnenden 2000er-Jahre schildert der Autor an Island.  Die großzügigen Bankenrettungen im Zuge der Finanzkrise 2008 sieht er zwiespältig, die Politik habe es verabsäumt, stärkere Regulierungen umzusetzen. Im Umgang mit der Schuldenkrise Griechenlands hält der Chronist sich zurück, das befürchtete Zerbrechen des Euro sei wohl übertrieben gewesen. Nicht gut weg kommt der griechische Kurzeitfinanzminister Yanis Varoufakis. Zugleich erfahren wir, dass Obama mehrmals interveniert hat, die EU möge das Problem rasch lösen.

Enttäuschte Erwartungen

Viele der vom Autor bereisten Schauplätze handeln von enttäuschten Erwartungen und demokratiepolitischen Rückschritten: In Sarajevo sei der Aufbruchsstimmung längst Resignation und Desillusionierung gewichen: „Die Arbeitslosigkeit beträgt 35 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit 55 Prozent.“ (S. 111) Vom ehemaligen, liberalen Bürgermeister der Stadt Budapest erfahren wir, wie sich das politische Klima im Land zusehends verschärft hat und wie er und seine Partei abgewählt wurden. Eine polnische Journalistenkollegin schildert, wie der neue Nationalismus und auch der Antisemitismus in ihrem Land wieder zunehmen. Soweit nur einige Beispiele.

Insgesamt zieht Mak ein nüchternes Fazit. Wenige der Probleme Europas seien gelöst: weder die Frage der Migration („Wir bekamen nur einen steifen Hals vom Wegschauen“, S. 433) noch die Zunahme der Ungleichheit: „In Südeuropa war [2016, Anm. H. H.] weiterhin ein Drittel der Menschen unter dreißig Jahren arbeitslos. Der jahrelang demontierte Öffentliche Sektor war geschwächt.  Viele Wähler hatten den Eindruck, dass die Politik jeden Kontakt zu ihrer Lebenswirklichkeit verloren habe.“ (ebd.). So endet auch das letzte Kapitel „Große Erwartungen“ mit eher düsteren Aussichten, die der Autor im wohl nachträglich angefügten Epilog zur Pandemie nochmals verschärft sieht. Die neue Krise bringe nicht nur neue Angst und mögliches persönliches Leid, sondern es komme auch ein „beispielloses ökonomisches Unwetter auf uns zu“ (S. 570). Was das für Europa bedeuten wird, ist freilich noch ungewiss.

Resümee: Eine faszinierende Chronik zum aktuellen Zustand Europas. Mak nimmt sich der Verlierer und Verliererinnen des Turbokapitalismus an, versucht den Vertrauensverlust in die politischen Institutionen sowie den neuen Populismus zu erklären, möchte wohl Bürger und Bürgerinnen sowie Personen in Entscheidungspositionen aufrütteln. Vielleicht ist das Buch eine Spur zu pessimistisch geraten, aber wir werden sehen, was die Zukunft bringt.