Baruch de Spinoza war ein radikaler Denker im 17. Jahrhundert. Martin Saar untersucht, welche Anschlüsse heute noch an den niederländischen Tabubrecher möglich sind, wenn wir über Politik reden. Indizien, dass Spinoza noch heute eine Rolle spielen kann, findet man genug: Auf ihn bezogen sich Strukturalisten genauso wie zuletzt Antonio Negri und Michael Hardt in ihrem Buch über die Multitude. Und der Begriff der Multitude hat eine Vorgeschichte bei Spinoza.
Saar präsentiert die drei zentralen Werke Spinozas, die das Gemeinwesen zum Thema hatten. Das sind der „Tractatus theologico-politicus“, der „Tractatus politicus“ und sein Hauptwerk „Ethica ordine geometrico demonstrata“. Aus allen Texten versucht er Kernelemente herauszufiltern, die anschlussfähig sind.
Spinoza attackierte die theologischen Lehren seiner Zeit. Auch der politischen Obrigkeit sprach er die Autorität in der Bestimmung konkreter Lebensgestaltung ab. Die Kirche solle außer praktisch-moralischen Grundsätzen keine Aussagen treffen, die Politik müsse ihre Legitimität wesentlich anspruchsvoller definieren. Er kam zur Überzeugung, dass „gemeinschaftliche Einigung die alleinige Quelle legitimer politischer Autorität ist und dass allein die Vernunft das Forum zur Prüfung einander widerstreitender Argumente sein kann“ (S. 412). Die Macht des Volkes, der Multitude, sei die einzige Quelle der Handlungsfähigkeit und der Stabilität der Institutionen und Herrschaftsstrukturen. Deshalb müsse sie in das Regieren eingebunden sein.
Diese Multitude besteht nun aus Menschen, die immer zugleich vernünftig und affektgeleitet sind. Sie müssen sich zu allererst von unverstandener Bedingtheit und inneren und äußeren Einflüssen befreien, um zu einer selbstbestimmten Existenz zu gelangen. Dabei legen sie ihre potenia frei, das, was sie von Natur aus vermögen und können. Diese Fähigkeiten sind nach Spinoza immer schon gegeben, immanent. Diese Natur ist aber nicht stabil, bei Spinoza kommt durch das „Conatus-Prinzip“ Dynamik in die Sache. Unter diesem Prinzip versteht er eine Wirkkraft, die den Akt des Werdens ermöglicht: Das Wachsen und Vergehen von Pflanzen genauso wie das menschliche Werden.
Das Prinzip des Werdens
Dieses Werden führt aber genauso zu vernünftigen wie zu von Affekten geleiteten Reaktionen der einzelnen Menschen und der Multitude. Saar beharrt deswegen darauf, dass die Effekte der Macht der Multitude bei Spinoza „grundsätzlich unterbestimmt sind, ihr Wirken produktiv oder destruktiv sein könne und deshalb Macht, anders als es viele Theorien zulassen, Konstitution oder Zerstörung bedeuten kann.“ (S. 414f.) Die Affektenlehre räumt den Gefühlen und emotionalen Dispositionen sowie imaginären Dynamiken einen herausragenden Platz ein und macht damit die Unbestimmtheit der Macht in Bezug auf das, was man Fortschritt nennt, offensichtlich.
„In ihrem Zentrum steht eine Konzeption der multitudo, der Menge, als des unverfassten, aber unverzichtbaren Fundaments der Macht des Staates sowie eine anspruchsvolle Theorie der politischen Freiheit. Auch an diesem Punkt ist Spinozas Theorie offen für Ambivalenz und Kontingenz. Die Menge ermöglicht und bedroht zugleich die staatliche Ordnung.“ (S. 416) Diese Interpretation ist insofern wichtig, als auch Antonio Negri sich auf Spinoza bezieht, Negri aber eine grundsätzlich positive Richtung der Machtausübung der Multitude annimmt.
Saar kommt zu einigen Schlussfolgerungen für die politische Theorie. „Gegen die eine Macht hilft nur eine andere Macht.“ Spinozas Denken der Regierung, der Affekte und der Demokratie verfährt (…) ganz ähnlich: Das unvermeidliche Regiertwerden kann nur durch alternative Formen der (Selbst-)Regierung in verträgliche Bahnen gelenkt werden.“ Spinoza richte sich gegen eine eindeutige Scheidung zwischen guter und destruktiver Gewalt, er richte sich gegen die Idee einer vollständigen Steuerung durch die Regierung, er richte sich gegen den Versuch, Affekte aus der Politik zu verbannen. Seine Theorie der Immanenz liest Saar so, dass die Gesetze, Normen und Kriterien aus den Vollzügen des menschlichen Lebens, Erkennens und Zusammenlebens selbst entstehen und deswegen Ausdruck ihrer Natur seien. Aufruhr sei immer immanent, in der Natur des Menschen angelegt, Ausdruck dessen, dass Regiertwerden nur so lange toleriert wird, solange der Preis dafür, sicher zu leben, nicht zu hoch geworden sei (S. 426). Demokratietheorie Stefan Wally
Saar, Martin: Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza. Berlin: Suhrkamp, 2013. 459 S., € 22,- [D], 22,70 [A], sFr 30,80.
ISBN 978-3-518-29654-7