Ein klassisches Manifest stellt das Büchlein dar, das Karl Heinz Roth und Zissis Papadimitriou vorgelegt haben. Unter dem Titel „Die Katastrophe verhindern. Manifest für ein egalitäres Europa“ argumentieren sie für einen neuen Versuch, die Politik auf diesem Kontinent zu verändern.
Roth gilt seit langem als Vordenker der radikalen Linken in Deutschland, mit vielen Büchern hat er immer wieder Einfluss auf das Ideenrepertoire dieses Lagers genommen. Zissis Papadimitriou war Professor für Soziologie und Politische Wissenschaften in Thessaloniki und publiziert ebenfalls seit Jahrzehnten.
In dem Manifest beschreiben die beiden die Entwicklung Europas, die zur Wirtschaftskrise und zur aktuellen Stagnation führten. „Inzwischen ist Europa zum Epizentrum der globalen Stagnation geworden.“ (S. 40) Sie beginnen mit den Auseinandersetzungen nach dem Kollaps des Goldstandards in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre und beschreiben die Deregulierung der Finanzmärkte und die Entwicklung der deutschen Vormachtstellung in Europa. Sie kritisieren das „beispiellose Programm zum Ausbau der deutschen Wettbewerbsposition auf dem europäischen Binnenmarkt“ (S. 29) durch die Agenda 2010 der rot-grünen deutschen Bundesregierung, das auf Deregulierung der Arbeitsmärkte, der Einführung eines Niedriglohnsektors und dem Abbau von Sozialleistungen basierte. So steigerte Deutschland seine Arbeitsproduktivität und senkte die Reallohnkosten. Die Autoren sprechen von der „Logik des deutschen Neomerkantilismus.“ Die überakkumulierte deutsche Produktionsbasis konnte dauerhaft nur gesichert werden, da sie auf ständig wachsende Waren- und Kapitalexportmärkte zurückgreifen konnte, auf denen der in Deutschland produzierte Mehrwert realisiert und reinvestiert werden konnte. Die Situation in Griechenland lässt sich auch so erklären.
Manifest der Reformen
In dem Manifest gehen die Autoren von der Beschreibung der Entwicklung zur Formulierung eines Programmes über. Bemerkenswert dabei, dass sie sich von Revolutionsmodellen verabschiedet haben. „Die erste Prämisse basiert auf der im Ergebnis unseres jahrzehntelangen Engagements gewonnenen Einsicht, dass die Revolutionsmodelle, die einst die verschiedenen Strömungen der Arbeiterlinken beflügelten, überholt sind.“ (S. 93) Die Autoren setzen auf „entscheidende Reformen“, die schließlich den Systembruch herbeiführen, auf mehrere Etappen sich verteilen und über längere Zeitspannen erstrecken und die einen oder mehrere Generationswechsel einschließen (S. 94). Klar sei auch, dass der Systemwechsel nur mehr auf der Grundlage eines transnational koordinierten Vorgehens möglich sei, das ganze Kontinente oder Weltregionen umfasst (S. 97).
Die Kernforderungen in dem Manifest sind die Entschleunigung des Arbeitstempos und der Arbeitsrhythmen sowie Arbeitszeitverkürzung bei Lohnausgleich (s. a. nächstes Kapitel in dieser PZ). Es geht um den Ausbau und die Erneuerung der sozialen Sicherungen, die Rückverteilung von gesellschaftlichem Reichtum, die Verhinderung von Kapitalflucht und die Vergesellschaftlichung der Investitionen. Öffentliche Güter sollen wieder von der Gemeinschaft angeeignet werden, die Gleichheit der Geschlechter unterstützt, das Schengener Grenzregime liquidiert, eine Kehrtwende in der Umweltpolitik herbeigeführt und die Ungleichgewichte in Europa überwunden werden.
Die Autoren denken an eine Föderative Republik Europa, in der Kommunen und Kantone stark sind, die Nationen in übernationalen Regionen zusammengefasst werden. Einen „Aufbruch zu neuen Ufern“ nennen sie ihr Projekt. Kaum wo liest man eine derart kompakte Darstellung der Politik der radikalen Linken wie hier, wenngleich deren Radikalität vor Jahren schon wesentlich ausgeprägter war. Europa: Föderative Republik
Roth, Karl Heinz ; Papadimitriou, Zissis: Die Katastrophe verhindern. Manifest für ein egalitäres Europa. Hamburg: Nautilus, 2013. 125 S., € 9,90 [D], 10,30 [A], sFr 13,90. ISBN 978-3-89401785-9