Mit der offenkundigen Auflösung der »Fortschrittsgleichung«, die im Einklang mit wachsender wissenschaftlicher Kompetenz soziale Sicherheit und materiellen Wohlstand zu sichern schien, ist der Fortschritt selbst fragwürdig geworden. Einstige Sicherheiten sind zerbrochen. Anhand zweier Diskurse, der »Armutsdebatte« des 19. Jahrhunderts und der Diskussion um die friedliche Nutzung der Atomenergie, weisen die Autoren nach, wie Angst und Unsicherheit zum Ausgangspunkt sozialpolitischen Fortschritts wird. Der Blick auf die Auseinandersetzungen der Industriekultur, an deren Ende die (theoretische) Gleichstellung aller Individuen errungen und gesetzlich abgesichert werden konnte, klärt auch Positionen innerhalb der aktuellen Technologie- und Risikodebatte: Damals wie heute wird die Gesellschaft als Hindernis auf dem Weg des Fortschritts gesehen, auch wenn dessen Zielrichtung heute mehr denn je zur Diskussion steht. Am Beispiel der »Risikodebatte« zeigen Evers und Nowotny, wie wenig technisch-politische Führungskräfte (bisher) die sozialen, kulturellen und ethischen Auswirkungen ihrer Handlungsmuster reflektieren. Der/Versuch, Gefahren in Risiken zu verwandeln und damit kalkulierbar und akzeptabel zu machen, wird vor allem für die Naturwissenschaften zur Belastung. »Die Expertise versagt (nämlich) da, wo die gesellschaftlichen Akteure selbst nicht die Chance oder sogar Verpflichtung haben, sich über Zukunftsperspektiven zu verständigen.
Gefordert wird die Schaffung neuer Institutionen, eine »Entgrenzung der Politik«, die dem Bürger die Chance und die Aufgabe eröffnet, -sich vom Staatsbürger zum Mitbürger zu entwickeln«. Nicht nur der Verweis auf vorangegangene gesellschaftliche Diskurse und seinerzeit kaum denkbare, heute aber sozial verbindliche Lösungen macht diese Arbeit in der gegenwärtigen Phase allgemeiner Verunsicherung wertvoll. Auch die Einsicht in die Grenzen der Wissenschaft, allgemein verbindliche Perspektiven zu entwickeln, fällt wohltuend auf. Wenn soziales Wissen zumindest gleichwertig neben der wissenschaftlichen Analyse akzeptiert und sogar nachdrücklich gefordert wird, ist dies ein Beitrag zur Demokratisierung der Wissenschaft selbst. Sind die Sozialwissenschaften auf dem Weg, soziale Wissenschaften zu werden?
Evers, Albert; Nowotny, Helga: Über den Umgang mit Unsicherheit. Die Entdeckung der Gestaltbarkeit von Gesellschaft. Frankfurt/M.: S. Fischer, 1987. 330S. (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft; 672)