Dass sich die staatlichen Demokratiesysteme weltweit in einer Krise befinden, ist in der Zwischenzeit zum Gemeinplatz geworden. Felix Heidenreich legt zu Beginn seines Buches den Finger trotzdem in die offene Wunde, und das mit gutem Grund. Mit Timothy Snyder verweist er darauf, dass die Gefahr für die Demokratie nicht so sehr von äußeren Feinden ausgeht, sondern von denen, die in und mit ihr, doch zu wenig für sie leben. Nicht Putin und Xi bedrohten die Demokratie, sondern die Anhänger:innen eines Trump oder Erdogan.
Über Entfremdung
Auf seiner Ursachensuche geht Heidenreich, wie viele andere aktuelle Beiträge zum Thema Demokratiekrise, von einer Entfremdung zwischen politischen Repräsentant:innen und den von ihnen Vertretenen aus. In jeweils unterschiedlicher Intensität würde alles, was für die staatliche Öffentlichkeit steht, Ziel von Angriffen, von Rettungssanitäter:innen über Radarkästen bis zu Gemeindebibliotheken. Ein weit verbreiteter Staatsdefätismus finde seinen Ausdruck in einem Spektrum von ökonomistischer Opportunität („Was ist für mich drin?“) bis hin zur reichsbürgerlichen Totalverweigerung. Für Heidenreich gehören die beiden gängigen Erklärungsmuster von rechts und links synthetisch zusammen. Sowohl neoliberalistisch getriebener wirtschaftlicher Abstieg als auch die Unübersichtlichkeit der pluralistischen Gesellschaft brächten eine gemeinsam empfundene, geteilte Realität zum Verschwinden, die von einer schon von Hannah Arendt beschriebenen Weltlosigkeit der Konsumkultur ersetzt werde. „Wer die Globalisierung und damit die Zeit gegen sich hat, wird sowohl ökonomisch als auch kulturell und symbolisch verlieren“, heißt es an einer Stelle (S. 42).
Die aktuellen Therapievorschläge, die unter dem Oberbegriff „Bürgerbeteiligung“ Politik und Gesellschaft wieder miteinander verbinden sollen, seien trotz ihres Potentials für Verbesserungen ungenügend. Einerseits werde es immer – freiwillig oder unfreiwillig – Unbeteiligte geben, andererseits werde es bei zunehmender Verquickung von Beteiligungsformaten mit der institutionellen Politik immer schwieriger, politische Verantwortung zuzuordnen. „Es ist auch denkbar, dass die Kombination verschiedenster Verfahren ein gigantisches Durcheinander produziert, eine Konkurrenz zwischen verschiedenen Legitimationsquellen, die am Ende die Verantwortlichkeit, die accountability, verschwinden lässt.“ (S. 64)
Das tieferliegende Problem verortet Heidenreich in drei Trends. Zunächst habe sich die Politik einer ökonomistischen Logik unterworfen, der Staat wird zum Lieferanten, Bürger:innen zu Konsument:innen. „Politik wird zum Teil des Dienstleistungssektors, dessen Ergebnis-se wir aus der Distanz bewerten sollen, außerhalb des Produktionszusammenhangs.“ (S. 75) Die damit verbundene Werbe- und Marketingmaschine ersetze rationalen Diskurs mit Emotionen, die fortan als – unwiderlegbare – Grundlagen der Realitätswahrnehmung gelten. Schließlich sieht Heidenreich auch einen Trend zur medialen Infantilisierung der Gesellschaft, der wiederum eine Pädagogisierung politischer Kommunikation nach sich ziehe, wenn etwa nach bester Werbemanier mit Schockbildern auf den Zigarettenpackungen zu einem bestimmten Verhalten bewegt werden soll.
Auf der Suche nach einem neuen Demokratiebegriff
Den größten Teil des Buches verwendet Heidenreich auf die Suche, genauer auf die Wiederentdeckung, eines anderen Demokratiebegriffs und eröffnet so einen lohnenden Blick auf unser demokratisches Selbstverständnis. Ausgehend von Emmanuel Lévinas‘ und Michel Foucaults Philosophien der Subjektivierung entwirft er eine Idee der bürgerlichen Autonomie, die die Freiheit eröffnet, sich durch den Staat als organisierte Gesellschaft in Anspruch nehmen zu lassen. Dazu zieht Heidenreich die Figur des citoyen, der citoyenne heran. Es sind die Bürger:innen der aufgeklärten Vernunft, die die Voraussetzungen eines demokratischen Rechtsstaats schaffen. Gelingen kann dies durch eine gemeinsame, kollektive Praxis, anhand der Demokratie als Gemeinwohl-Verantwortung erfahrbar wird. Freiheit erwächst demnach letztendlich aus der Fähigkeit, die schwierigen und unangenehmen Notwendigkeiten von Demokratie auszuhalten. Heidenreich bereitet dafür das Böckenförde-Theorem und die Sozialkapital-Theorie bei Robert Putnam neu auf. Besonders wertvoll wird das Buch durch die Auseinandersetzung mit zahlreichen Beispielen einer solchen Praxis. Der Autor nimmt uns mit auf eine spannende Reise von Elvis Presleys Ankunft als Soldat in Bremerhaven über die Landsgemeinde des eidgenös-sischen Glarus und den französischen Klima-Bürgerrat bis zur Zumutung des gemeinsamen Lernens im Klassenzimmer. Das Buch schließt mit einigen Vorschlägen, wie wir uns Demokratie gegenseitig zumuten können.