Cristina Lafont

Unverkürzte Demokratie

Ausgabe: 2021 | 4
Unverkürzte Demokratie

Wie organisieren wir unsere Demokratie am besten? Diese Frage stellt sich die amerikanische Philosophin Cristina Lafont in ihrem aktuellen Buch. Demokratien sind weltweit unter Druck. Von Autokraten genauso wie von Bürger:innen, die Zweifel haben, ob ihre formalen Mitgestaltungsmöglichkeiten auch wirklich wirksam sind. „Diese Rechte und Chancen scheinen nicht mehr hinreichend zu gewährleisten, dass Bürger auch wirklich die Möglichkeit haben, die Politik, der sie unterworfen sind, mitzugestalten und als ihre eigene zu betrachten.“ (S. 13) Damit sich der politische Prozess wieder mehr nach den Interessen, Meinungen und politischen Zielsetzungen der Bürger:innen richten kann, sollen institutionelle Reformen die Möglichkeiten zur Beteiligung an Entscheidungsprozessen, die die Politik wirklich beeinflussen, ausweiten.

Vier Herangehensweisen, wie Demokratie gesehen werden kann

Lafont beschäftigt sich mit vier Herangehensweisen, wie Demokratie gesehen werden kann. Aus der jeweiligen Sicht ergibt sich immer ein anderer Weg, die Demokratie zu stärken. Lafont hält mit ihrer Präferenz unter den vier Varianten nicht hinter dem Berg. Aber der Reihe nach.

Radikalpluralistische Denker:innen sagen, dass politischer Dissens in demokratischen Gesellschaften allgegenwärtig ist und dass diese Meinungsunterschiede so fundamental seien, dass man nicht von ihrer Überwindbarkeit ausgehen kann. Deswegen plädieren Vertreter:innen dieser Denkschule dafür, sich darauf zu konzentrieren, wie die eine oder andere Seite sich durchsetzt. Da Konsens nicht erwartet wird, muss der Entscheidungsprozess möglichst fair und transparent gestaltet sein. Wer sich in einem solchen Vorgang nicht durchsetzen kann, hat die Ergebnisse trotzdem zu akzeptieren. Lafont hat an dieser Stelle Bedenken: „Ungerechte Gesetze hinzunehmen oder die Mitgliedschaft in ihrem Gemeinwesen aufzugeben sind für Bürgerinnen und Bürger keine möglichen Wege zu mehr politischer Integration oder gar zur Annäherung an das politische Ideal der Selbstregierung.“ (S. 102)

Anders gehen Vertreter:innen epistemischer Demokratiekonzeptionen an das Thema heran: Sie rücken nicht den Prozess in den Mittelpunkt, sondern das Ergebnis. Demokratie erscheint unterstützenswert, weil sie die besseren oder „wahren“ Ergebnisse bringt. Probleme lassen sich gemeinsam vernünftig lösen, der demokratische Prozess ist dafür am besten geeignet. Demokratie ist legitim, weil sie eine höhere Qualität der Begründung ihrer Resultate liefert. Was aber, wenn sich herausstellte, dass Demokratie gar nicht die bestbegründeten Entscheidungen liefern würde? „Wir können Demokratie noch so minimalistisch definieren, es führt kein Weg daran vorbei, dass in einer Demokratie die Meinung der Bevölkerung, so unbegründet sie auch sein mag, einfach nicht übergangen oder ignoriert werden kann. Das gilt nicht nur, wenn die öffentliche Meinung möglicherweise richtig liegt, sondern ebenso (und noch mehr), wenn sie womöglich falsch liegt. Denn diese öffentliche Meinung ist genau die Stimme, die gehört, einbezogen, in Frage gestellt und in geeigneter Weise verändert werden muss, damit bessere Gesetze und Regelungen auch nachhaltig politisch wirksam sind.“ (S. 159)

Drittens wendet sich Lafont den lottokratischen Ideen zu. Hier geht es zum Beispiel um Bürger:innenräte. Dabei wird eine übersichtliche Anzahl von Menschen ausgelost, die repräsentativ für die Bevölkerung sein sollen, um Entscheidungen zu treffen oder vorzubereiten. Die Theorie ist, dass diese Gruppen in ihrer Zusammensetzung die Gesellschaft widerspiegeln, und durch den Austausch untereinander „filtert“ man die besten Argumente heraus. Das sind die „Spiegel-“ und die „Filterthese“.  Lafont denkt das Modell durch. Wenn die Lösung in der Kleingruppe durch den intensiven Austausch miteinander erst entsteht (Filterthese), so haben sich die Teilnehmer:innen in dieser Zeit weiterentwickelt, haben Expertise aufgebaut. Wenn das aber so ist, dann repräsentieren sie in keiner Weise mehr die Gesamtgesellschaft, was nach der Spiegelthese aber gefordert würde. Dann schrumpfe der Vorschlag auf eine spezielle Version der elitaristischen Auffassung der Demokratie zusammen, nämlich auf eine Form der Überantwortung an Expert:innen. „Da deliberative Demokratiekonzeptionen aber die Rechtfertigung beider Thesen verlangen, vermag keine dieser beiden Argumentationen dem demokratischen Ideal der Selbstregierung gerecht zu werden.“ (S. 196)

Lafont hält politischen Dissens für unvermeidbar. Damit beginnt sie die Darstellung der vierten, ihrer, Option. Es geht ihr um die richtige Art und Weise, diverse Formen von Meinungsverschiedenheiten angemessen zu überwinden. Oft könnten in Debatten Fragen so strukturiert werden, dass sich divergierende Ansichten erklären und (langfristig) ausräumen lassen. Wichtig ist, dass sich Bürger:innen Mehrheitsentscheidungen nicht vorbehaltlos fügen, sondern die Möglichkeit haben, die Entscheidungen wieder in Frage zu stellen, und ihre Mitbürger:innen gefordert sind, auf die Vorlage angemessener Gründe und Beweise zu reagieren. Nur so könne erreicht werden, dass beschlossene Gesetze und Regelungen von den Bürger:innen als ihre eigenen begriffen werden. „Ohne eine Verpflichtung zur gegenseitigen Rechtfertigung sähen sich die Bürger einfach dem Zwang anderer ausgeliefert und würden sich dem politischen System entfremden.“ (S. 344) Wie kann man sich aber in Debatten rechtfertigen, außer damit, dass man eine Mehrheit stellt? Hier führt Lafont mit John Rawls den Begriff der „öffentlichen Gründe“ ein. Diese beruhen auf Werten und Idealen, die die Bedingung der Möglichkeit der Demokratie bilden: dem Ideal, Bürger:innen als frei und gleich zu behandeln, und dem einer Gesellschaft als faires System der Kooperation. Mit der Schaffung dieser Kategorie führt sie eine Hierarchie der Argumente ein. Öffentliche Gründe haben Vorrang, laute die Spielregel in der Diskussion.

Demokratie gibt es ohne blinden Gehorsam nicht mit Abkürzungen

Das Modell von Cristina Lafont ist herausfordernd und auch anstrengend. Aber dass es Demokratie ohne blinden Gehorsam nicht mit Abkürzungen gibt, hat die Autorin detailreich ausbuchstabiert.