Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey

Gekränkte Freiheit

Ausgabe: 2023 | 2
Gekränkte Freiheit

Der „libertäre Autoritarismus“ hat in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. Ihm widmen sich die Literatursoziologin Carolin Amlinger und der Soziologe Oliver Nachtwey in ihrem Buch „Gekränkte Freiheit“. Das Phänomen resultiere aus den Konflikten um Wissen, um Einschluss und Ausschluss sowie aus dem Wandel von Öffentlichkeit und Opposition. Die Studie basiert auf einer Online-Umfrage mit 1150 Querdenker:innen sowie 45 ausführlichen Interviews, der Beobachtung zahlreicher Demonstrationen und Telegram-Kanäle.

Über libertären Autoritarismus

Wer sind nun „Libertäre Autoritäre“? Sie sind keine starren Verfechter:innen konventioneller Werte und auch autoritäre Unterwürfigkeit ist ihnen nicht zuzuschreiben. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Sie sehen sich als Demokrat:innen und bekennen sich zu partizipativen Werten. Häufig lehnen sie gesellschaftliche Autoritäten ab, allen voran den Staat und Expert:innen.

Der springende Punkt ist, dass sie nur sich selbst als Autoritäten akzeptieren. „Freiheit ist für sie ein unbedingter Wert, den sie nicht in sozialen Beziehungen mit anderen abgleichen oder gar einschränken wollen. Sie begreifen sie als ihr alleiniges Recht, über das nur sie verfügen“. (S. 338) Libertär seien sie in dem Sinn, dass sie ihre individuelle Freiheit absolut setzten. „Dies ist jedoch gleichzeitig der Ausweis ihrer autoritären Neigung. Sie werten jene ab, die ein anderes Verständnis von Freiheit vertreten. Durch diese Form der aggressiven Herabwürdigung werden sie zu libertären Autoritären.“ (S. 338)

Besonders ausgeprägt ist ihre Kritik am Staat. Er erscheint ihnen als Maschine, die individuelle Freiheiten einschränkt, sei es durch Inklusionspolitik, Multikulturalismus oder durch das Erzwingen von Solidarität in der Pandemie. (S. 342)

Verschiedene Gruppen tragen bzw. stützen den libertären Autoritarismus. Da sind zum einen die „gefallenen Intellektuellen“, die weniger zum Aberglauben neigen, aber eine starke Ablehnung des Sensiblen und nichtbinärer Geschlechteridentitäten teilen. Bei „Querdenker:innen“ finde man dies weniger, dafür aber Neigung zu Aberglauben. Bei den „regressiven Rebellen“ dominiere Destruktivität und Zynismus.

Amlinger und Nachtwey betten diese Beschreibung des Phänomens in die Analyse der Gesellschaft ein. „Sich zu unterscheiden, sich selber zu verwirklichen, sich zu verbessern – dies sind vielfach keine selbst gewählten Optionen mehr, sondern Anforderungen, die von außen an uns herangetragen werden. […] Das spätmoderne Individuum ist zudem äußerst kränkungsanfällig, wenn es seine Ansprüche auf Selbstentfaltung nicht realisieren kann. Mit seiner Ausrichtung auf Selbstverwirklichung und Authentizität ist es ganz auf Immanenz ausgerichtet – und sucht gerade deshalb Halt in alternativen Formen der Transzendenten“ (S. 339) Auch die Komplexität der spätmodernen Welt sei als Ursache dieser neuen Entwicklung zu nennen. Vor ihr kapitulieren die libertären Autoritären. Die Autor:innen zitieren Adorno, der erkannte, dass für Manche Zustände der Komplexität kaum auszuhalten seien, wenn sie keine Möglichkeit der Veränderung sehen oder die Kraft dafür in sich fühlen. Dann projizieren sie die Abhängigkeit auf etwas Anderes: „seien es die Sterne, sei’s die Verschwörung der internationalen Bankiers“ (S. 348)

Für die kommenden Jahre rechnen Amlinger und Nachtwey nicht mit einem Verschwinden des Phänomens. Man erkenne – sie zitieren Jürgen Habermas – ein wachsendes Potential eines ganz neuen, in libertärer Form auftretenden Extremismus der Mitte. Auch die Epidemie der Halbwahrheiten und Verschwörungstheorien werde nicht verschwinden.

Zum Verständnis von Freiheit

Zum Kern des Freiheitsverständnisses der libertären Autoritären argumentieren sie mit Axel Honneth. In „Das Recht der Freiheit“ argumentiert dieser, dass der Mensch erst wirklich frei sei, wenn er im Rahmen institutioneller Praktiken auf ein Gegenüber trifft, mit dem (ihn) ein Verhältnis wechselseitiger Anerkennung deswegen verbinde, weil er in dessen Zielen eine Bedingung der Verwirklichung seiner eigenen Ziele erblicken könne. Honneth habe hier eine Gesellschaft vor Augen, in der eine demokratische Sittlichkeit vorherrsche. Eine Gesellschaft würde gerade die Individualität nicht zu lebloser Konformität einkochen, sondern sie im Gegenteil erst zur Entfaltung bringen. (S. 354)