Katharina Pistor

Der Code des Kapitals

Ausgabe: 2021 | 2
Der Code des Kapitals

Ökonomische Analysen zum Kapitalismus und seinen Krisen gibt es zahlreich, rechtswissenschaftliche Abhandlungen sind hingegen rar, Fachbeiträge zu einzelnen Rechtsmaterien ausgenommen. Diese Lücke füllt Katharina Pistor mit Der Code des Kapitals – im Mai 2019 auf Englisch und im November 2020 auf Deutsch erschienen. Rasch wurde das Buch zum Bestseller, auch wenn die abgehandelten Themen durchaus komplex und nicht immer leicht zu verstehen sind. Die Juristin geht der Frage nach, wie Kapitalgesellschaften seit Jahrhunderten für sich selbst Rechte und Privilegien setzen, von denen die „normale“ Bevölkerung nur träumen kann. Möglich mache dies das angelsächsische Rechtssystem, in dem nicht geschriebene Gesetze, sondern Präzedenzfälle maßgeblich sind, wodurch Firmenanwältinnen und -anwälte insbesondere in London und New York ein Privatrecht haben schmieden können, um immer neue Produkte als privates Kapital auszuweisen und so der öffentlichen Sphäre zu entziehen, so die zentrale These des Buchs.

Pistors politökonomische Studie geht zurück zu den englischen Landlords, den Commons und ihrer Vereinnahmung durch den Adel und seine Anwälte. Damit zeigt sie bis heute reichende rechtliche Kontinuitäten des Kapitals auf. Eine der zentralen Aussagen: Kapital ist nicht nur, wie die Volkswirtschaftslehre betont, einer der Produktionsfaktoren, der zur Schaffung von Gütern führt, sondern verbrieftes Recht auf Schutz von Eigentum. Grundstücke, Unternehmen, Patente, Schuldverschreibung-en, digitale Daten und jede Art von Finanzinstrumenten werden zu Kapital durch rechtliche Absicherung, oder – wie Pistor sagt – durch Codierung. Kapital bestehe daher immer aus zwei Komponenten: dem Gut und dem Rechtscode, der es absichert.

Warum lässt sich daraus ableiten, dass das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft, wie der Untertitel des Buchs folgert? Besitz, ob in Form von materiellen Gütern oder in Form von Finanzgütern, werde privatrechtlich abgesichert durch das Vertragsrecht, die Eigentumsrechte, das Kreditsicherungs-, Gesellschafts- und Insolvenzrecht. Eigentum erhält damit besondere Eigenschaften und privilegiert die Besitzenden. Als erstes nennt Pistor „Priorität“, die konkurrierende Ansprüche auf dieselben Güter in eine Rangfolge bringt und etwa Gemeinwohlinteressen nachreiht. Wichtig sei auch „Beständigkeit“, die prioritäre Ansprüche zeitlich ausdehnt, wie „Universalität“, die Ansprüche räumlich ausdehnt – Staaten haben zwar ihr jeweiliges nationales Recht, doch sei dieses durch internationale Anerkennungsklauseln gebunden, was dem Kapital quasi freie Wahl über die günstigsten Rechtsgrundlagen gewährt. Zwei Rechtsordnungen dominieren dabei „die Welt des globalen Kapitals: das englische Common Law und das Recht des Staates New York“ (S. 26). Als letzte Eigenschaft nennt Pistor „Konvertierbarkeit“ durch einen Versicherungsmechanismus, der es vermögensinhabenden Individuen ermöglicht, private Kreditansprüche bei Bedarf in Staatsgeld umzuwandeln. Die Bankenrettungen nach der Finanzkrise dienten auch diesem Zweck.

Über die „Herren des Codes“

Eine zentrale Rolle hinsichtlich der Codierung des Privatrechts für Besitz weist Pistor internationalen Rechtsfirmen zu, die nicht nur die Ansprüche ihres Klientel verteidigen und dafür hohe Honorare kassieren, sondern an der immer differenzierteren Ausgestaltung des Privatrechts aktiv mitwirken. Sie spricht von den Anwälten als „Herren des Codes“ (S. 18). Dem Staat komme dabei die Rolle der Absicherung dieser Rechte zu. Die Tatsache, „dass das Kapital mit der Macht des Staates verbunden und von ihr abhängig ist“, werde in den Debatten über Marktwirtschaften häufig außer Acht gelassen (S. 19). „Mit den besten Anwälten in ihren Diensten“, so heißt es an anderer Stelle, „können Vermögensbesitzer ihre Eigeninteressen mit nur wenigen Einschränkungen verfolgen. Sie beanspruchen Vertragsfreiheit, lassen aber die Tatsache außer Acht, dass ihre Freiheiten letztendlich von einem Staat garantiert werden, wenn auch nicht unbedingt von ihrem Heimatstaat.“ (S. 25)

Pistors Lösungsvorschläge

Mit vielen Beispielen erklärt Pistor, wie die Anpassung des Rechts an die Wünsche der Besitzenden funktioniert – vom Schutz materieller Besitztümer bis hin zu den „geistigen Eigentumsrechten“ durch Patente. Wie ließe sich die Trennung von Kapital und Gesellschaft mit staatlicher Hilfe nun einschränken? Die Autorin schlägt vor, alle Ausnahmen und Sonderregelungen für das Kapital zu streichen. Die freie, jeweils günstigste Wahl der Rechtsordnung soll erschwert, private Schiedsgerichtsbarkeit bei öffentlichen Interessen unterbunden werden. Vermögende sollten die Risiken, die mit ihren Finanzgeschäften verbunden sind, selbst tragen müssen und nicht länger der Allgemeinheit aufbürden können – Pistor hofft hier auf die Blockchain Technologie, die es ermöglichen könnte, allfällige Verluste jenen aufzubürden, die davor die Gewinne lukriert haben. Es sollten rein spekulative Verträge nicht mehr vor Gerichten durchsetzbar sein, und schließlich spreche vieles dafür, „dass die Demokratien ihre Kräfte bündeln und diese Strategien gemeinsam verfolgen sollten, und sich nicht in einen Regulierungswettlauf begeben.“ (S. 355)

„Der Schlüssel zum Verständnis der Grundlagen der Macht und der aus ihr hervorgehenden Verteilung des Reichtums liegt in dem Prozess, ausgewählten Vermögenswerten rechtlichen Schutz zu gewähren – und zwar im Rahmen einer privat – und nicht öffentlich getroffenen Wahl“, schreibt Pistor gegen Ende (S. 325).  Dies führt zur Frage, wem der Staat gehört, welche Aufgaben dieser zu erfüllen und wessen Interessen er zu vertreten hat. Das Buch öffnet uns diesbezüglich die Augen, indem es zeigt, dass Staaten keineswegs nur im Interesse des Gemeinwohls agieren. Zugleich ist es ein Plädoyer dafür, das Recht zur Regelung des Sozialen ernster zu nehmen und entsprechend demokratisch einzufordern. Es wird spannend sein zu verfolgen, ob und wie weit die Ausführungen über den akademischen Diskurs hinaus praktische Folgen in den Rechtssystemen zeitigen werden. Ein Weckruf sind sie allemal.