Anne Case, Angus Deaton

Deaths of Despair and the Future of Capitalism

Ausgabe: 2021 | 1
Deaths of Despair and the Future of Capitalism

Die Ökonomin Anne Case und der Wirtschaftsnobelpreisträger Angus Deaton haben  eine Studie zur sinkenden Lebenserwartung in der sozial abgehängten Weißen Arbeiterklasse der USA geschrieben. Diese „Deaths of Despair“ bzw. „Verzweiflungstode“ sind Antwort auf wirtschaftliche, soziale und psychologische Verwerfungen, die vor allem Weiße Männer und Frauen mittleren Alters betreffen – solange sie wenig formale Bildung aufweisen und nur über schlechte oder gar keine Jobs verfügen. Und sie zeigen sich auf drei verschiedene Arten: dem Tod durch Drogen, übermäßigen Alkoholkonsum und Suizid.

Vor allem in der mittleren Altersgruppe ab 45  steigt die Mortalität unter Niedriggebildeten – ein absolutes Novum, nachdem die Lebenserwartung 100 Jahre lang kontinuierlich gestiegen ist: „In every US state, suicide mortality rates for whites aged forty-five to fifty-four increased (…). In all but two states, mortality rates from alcoholic liver disease rose. And in every state, drug overdose mortality rates increased.“ (S. 40) Anscheinend betrifft diese Krise kaum Schwarze oder Latinos. Case und Deaton erklären dies mit deren kontinuierlich schlechteren Lebensbedingungen bzw. verweisen auf frühere wirtschaftliche und soziale Einbrüche, welche die Communities in den 70ern und 80ern heimsuchten, während sich ihre Lage mittlerweile verbessere.

Auch höhergebildete Weiße sind von der sinkenden Lebenserwartung nicht betroffen. Doch nicht Bildung an sich, sondern deren Begleiterscheinungen sind ausschlaggebend: Wer höher gebildet ist, hat bessere Jobs, ein höheres Einkommen, verfügt über eine Krankenversicherung und stabilere soziale Beziehungen. Niedrig Gebildete sind häufiger von Gesundheitskrisen betroffen und leiden öfter unter psychischen Erkrankungen und unter chronischem Schmerz – letzterer ist ein weit verbreitetes Phänomen unter den zunehmend verarmenden Weißen Arbeiterinnen und Arbeitern.

Eine besondere Rolle in dieser Krise spielen Opioide. Im Kampf gegen den weitverbreiteten Schmerz und unter Druck großer Pharmafirmen wurden in den USA seit den 90ern vermehrt  starke Opioide verschrieben, die zehntausende Menschen in die Abhängigkeit und in den Tod trieben. Unter dem Eindruck des pharmazeutischen Lobbyings wurde diese  liberale Verschreibung von Opioiden politisch nicht reguliert. Erst 2016 kam die Trendwende; viel zu spät, um den angerichteten Schaden dieser „Epidemie“ noch einzuhegen: „The supply side of the epidemic was important – the pharma companies and their enablers in Congress, the doctors who were imprudent with their prescriptions – but so was the demand side – the white working class, less educated people, whose already distressed lives were fertile ground for corporate greed, a dysfunctional regulatory system, and a flawed medical system.“ (S. 126)

Ein entfesselter Kapitalismus

Case und Deaton nehmen einen entfesselten Kapitalismus in die Pflicht, der seit den 90ern eine extreme Umverteilung von unten nach oben betreibt. Während sich die Einkommen von höher Gebildeten in den letzten 40 Jahren verdoppelt haben, blieb jenes der niedrig Gebildeten gleich. Dazu kommt, dass Jobwachstum vor allem im qualifizierten Bereich stattfindet, während traditionelle Industriejobs durch die Globalisierung verschwinden bzw. durch schlecht bezahlte und sozial kaum abgesicherte Dienstleistungsjobs ersetzt werden. Stabile Familienverhältnisse brechen zusammen; klassische „Communities“ wie Gewerkschaften und Kirchen, die Halt und Orientierung bieten, spielen kaum noch eine Rolle; eine monopolähnliche Marktmacht von Konzernen verschlechtert die Löhne und Arbeitsbedingungen weiter  und bedeutet im Grunde ein Scheitern des Kapitalismus.

Dieses Scheitern zeigt sich besonders im US-Gesundheitssystems, welches auch nach Obamacare noch immer 27 Millionen Menschen unversichert lässt. Ein großes Problem ist die weitverbreitete Krankenversicherung durch den Arbeitgeber: „The cost of employer-provided health insurance, largely invisible to employees, not only holds down wages but also destroys jobs, especially for less skilled workers, and replaces good jobs with worse jobs.“ (S. 191) Dazu kommt das erfolgreiche Lobbying der Ärzteverbände in den USA, welches Plätze für Medizinstudien künstlich niedrig hält – was sich wiederum in stark erhöhten Gehältern niederschlägt. Lobbying verschafft auch Medikamenten einen weltweit einzigartig hohen Preis und führt zu einem viel zu häufigen Einsatz von überteuerten medizinischen Maschinen. Das US-Gesundheitssystem ist somit das teuerste der Welt, ohne jedoch eine verbesserte Lebenserwartung zu erzielen: „Whatever Americans are getting from their healthcare system, it is not more years of life.“ (S. 195)

Das Gesundheitssystem reformieren

Wie lässt sich die steigende Zahl der „Verzweiflungstode“ einhegen? Case und Deaton plädieren  für eine grundlegende Reform des US-Gesundheitssystems, um die Marktmacht großer Gesundheitskonzerne zu brechen. Monopolisierungen sollen auch in anderen Bereichen aktiver bekämpft werden. Ein Anheben des gesetzlichen Mindestlohns würde armen Menschen das Leben zumindest etwas erleichtern. Ein duales Ausbildungssystem könnte Menschen ohne Hochschulabschluss qualifizieren und  wieder mehr Selbstvertrauen geben. Schließlich braucht es Aufklärung und Information, um qualifizierte Wahlentscheidungen abgeben zu können, vor allem, wenn es um das Durchbrechen der Umverteilung von unten nach oben geht: „We suspect that voters are generally unaware that they are being nickel-and-dimed (or worse). Increasing the flow of information on who is lobbying, for what, and the consequences might provide a brake on the effectiveness of this activity.“ (S. 257)

Deaths of Despair besticht durch eine spann-ende Aufbereitung von Daten und die vielschichtige Herangehensweise an ein komplex-es Thema, außerdem durch den Respekt für die Abgehängten und die weiterführenden Überlegungen zur Zukunft des Kapitalismus: nicht ihn abschaffen, sondern ihn wieder zu dem machen, was er einst war – ein Garant für Wohlstand für alle.