Wenn es um die Bewältigung der mannigfaltigen Herausforderungen im Anthropozän mit den Mitteln des demokratischen Rechtsstaats geht, gehört Jens Kersten zu den einflussreichsten Expert:innen im deutschsprachigen Raum. Der Verfassungsrechtler forscht seit Jahren an der Frage, welche rechtlichen Instrumente Demokratien zur Bewahrung der Biosphäre aufbieten können, oder nach seinem Befund, müssen. Das Buch kommt zu einer Zeit gesetzgeberischer Ratlosigkeit angesichts gescheiterter Klimaschutzgesetze, mangels gesetzlicher Zwangsmittel zahnlos bleibender Klimaschutzpläne und international halbherzig vereinbarter Klimaziele nicht zu früh und hoffentlich nicht zu spät. Kersten geht denn auch davon aus, dass die Zeit drängt. Im Zuge der Industrialisierung habe vor allem der globale Norden Umwelt und Natur als unbegrenzt ausbeutbare Ressource behandelt. Deshalb sei es notwendig, nach der bürgerlichen Revolution des späten 18. Jahrhunderts und der sozialen Revolution des 19. und 20. Jahrhunderts als Antwort auf durch Globalisierung und Industrialisierung entstandene Unfreiheit und Ungleichheit die dritte Revolution in Form einer Ökologisierung unserer Gesellschafts- und Verfassungsordnung durchzuführen. „Wir müssen viele bequeme Gewohnheiten unseres individuellen Konsums und gesellschaftlichen Lebens aufgeben“ (S. 21), lautet Kerstens Weckruf.
Eine revolutionäre Herangehensweise
Revolutionär an Kerstens Vorschlag ist in erster Linie seine Herangehensweise. Klimakatastrophe, Artensterben und globale Vermüllung seien längst im Gange und unterliegen einer exponentiellen Dynamik. Konzepte wie Risikogesellschaft oder Nachhaltigkeit seien nutzlos geworden und gaukelten lediglich bereits verlorene Handlungsspielräume vor. In der „globalen Schadens- und Gefahrengemeinschaft“ (S. 46) ließe sich „über das progressive Artensterben, die exponentielle Klimakatastrophe, die Verwüstung des Landes und die Vergiftung der Meere, die atomaren Verseuchungen und die ‚Entsorgung‘ des Atommülls für eine Million Jahre […] schlicht nichts Nachhaltiges sagen“ (S. 49).
Ausgehend von der Klima-Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 – die Karlsruher Richter:innen hatten das deutsche Klimaschutzgesetz als verfassungswidrig aufgehoben, weil der Gesetzgeber die Last der CO2-Reduktion zugunsten der jetzt lebenden Generation auf die kommenden verschieben wollte – schlägt Kersten einige gezielte Änderungen im deutschen Grundgesetz vor, um eine vollständige Ökologisierung der deutschen Staats- und Verfassungsordnung zu erreichen. Diese Änderungen sind vielleicht in ihrer Wirkung (hoffentlich) revolutionär, für Kersten sind sie zunächst Ausdruck einer logischen und notwendigen Weiterentwicklung.
Zum Herzstück der Argumentation
Herzstück seiner ökologischen Verfassungsordnung ist die Anerkennung des Globalsystems Natur und Umwelt sowie von Arten oder einzelnen Pflanzen und Tieren als Rechtspersonen und die Zuerkennung von Grundrechten an diese Rechtssubjekte. Diesen kann der Gesetzgeber bestimmte Eigenwerte zuschreiben, die sie selbst als Rechtssubjekt wahrnehmen können und die sie auch dann schützen, wenn es nicht um ihre Rolle in der menschlichen Gesellschaft geht, also unabhängig von ihrer Bedeutung für den Menschen.
Dieses Argument, zurückgehend auf Christopher Stones Aufsatz „Should Trees have Standing“ von 1974, wirkt vielleicht revolutionär, Kersten weist jedoch nach, dass mit Blick auf die Rechtsfähigkeit von Vermögensmassen, etwa in Form von Aktiengesellschaften oder Stiftungen, nicht-menschliche Rechtssubjekte in unserer Rechtsordnung gang und gäbe sind.
Durch Kerstens Vorschlag werden zudem nicht nur zusätzliche Rechte der Natur oder für die Natur verfassungsrechtlich grundgelegt und mit Durchsetzbarkeit ausgestattet. Kersten fügt auch den bereits bestehenden Grundrechten und Grundrechtsschranken eine ökologische Dimension hinzu. Bei der Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) wird die Freiheit der Einzelperson mit der Verletzung der Rechte anderer begrenzt, dem sollen nun nicht nur Grenzen bei Verletzung der Rechte der Natur hinzugefügt werden. Vielmehr können auch die Grenzen setzenden Rechte anderer eine ökologische Dimension haben und damit ökologische Schranken für die Entfaltungsmöglichkeit der Einzelperson bilden. Nicht nur die Natur, auch die Menschen haben dann ökologische Rechte.
Daran anknüpfend wird das ökologische Prinzip konsequent in den Staatsaufbau integriert. So erhält etwa der Bundestag einen Ausschuss für Natur, der paritätisch aus Abgeordneten und Expert:innen von Umweltverbänden und der Nationalen Akademie der Wissenschaften zusammengesetzt ist und über ein selbständiges Untersuchungsrecht verfügt, sowie eine Naturbeauftragte, die unabhängig und weisungsfrei Untersuchungen durchführen kann und ökologische Petitionen an den Bundestag behandelt. Der Bundeskanzler bzw. die Bundeskanzlerin hat eine ökologische Regierungserklärung abzugeben und sich einer ökologischen Haushaltsberatung im Bundestag zu stellen. Diese fußen auf eigenen ökologischen Richtlinien als Vorgaben des Bundeskanzlers bzw. der Bundeskanzlerin, der bzw. die Bundesminister:in für Natur hat ein Widerspruchsrecht bei Regierungsbeschlüssen.
Die Welt, die durch eine so tiefgreifende Verfassungsänderung entstehen kann, ist natürlich aus heutiger Sicht schwer vorstellbar. Das hinterlässt auch in Kerstens Entwurf schmerzliche Lücken. Wenn etwa im ökologischen Mehrebenensystem das ökologische Verfassungsprinzip in die Struktursicherungsklausel, die den Verfassungsstaat Deutschland mit der Europäischen Union verbindet, eingeführt werden soll, geht Kersten sehr pauschal davon aus, dass diese Anschlussfähigkeit ohne weiteres, vor allem ohne Änderung der EU-Verträge, gegeben sei. Das EU-Primärrecht räume nämlich „der Ökologie bereits einen sehr viel zentraleren Stellenwert als die deutsche Verfassungsordnung“ (S. 122) ein. So müsste Deutschland etwa Waren und Dienstleistungen aus anderen Mitgliedstaaten aufgrund der Waren- und Dienstleistungsfreiheit nach wie vor akzeptieren, auch wenn diese Staaten wesentlich geringere ökologische Standards haben. Auch die Frage nach der Einlösung der mit Klimagerechtigkeit untrennbar verbundenen sozialen Gerechtigkeit bleibt im Kapitel über die ökologischen Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen oder im Kapitel über die ökologische Verantwortung in der internationalen Gemeinschaft kaum angesprochen.
Eine interessante Einführung
Das Buch bietet gerade für Leser:innen ohne juristischen Background eine interessante Einführung über Grund und Menschen- bzw. Naturrechte und entwirft eine reizvolle Idee, mit welchem Handwerkszeug eine rechtsstaatliche Demokratie eine Zukunft multipler Krisen bewältigen könnte.