Architectures of Earth System Governance

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Architectures of Earth System Governance

Der Sammelband ist im Rahmen des „Earth System Governance Project“ erschienen, das der Politikwissenschaftler Frank Biermann, Professor für Governance globaler Nachhaltigkeit an der Universität Utrecht, 2009 gegründet hat und das er leitet. Biermann gehört weltweit zu den führenden Wissenschaftlern, die sich für eine grundlegende Reform der internationalen Governance einsetzen, nicht zuletzt für adäquate, zeitgemäße, faire Formen der Entscheidungsfindung innerhalb des Systems der UNO, um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht werden zu können, wie er in seiner Rede vor der UN-Generalversammlung im April 2014 ausführte.

Was ist Earth System Governance?

Beim Earth System Governance-Projekt handelt es sich um das weltweit größte sozialwissenschaftliche Forschungsnetzwerk im Bereich globale Umweltveränderungen und Governance. Es bildet seit 2015 eines der Kernprojekte von „Future Earth“, einer internationalen Forschungsplattform, die sich ab 1986 aus dem Geosphären-Biosphären-Programm entwickelte und deren Einrichtung bei der UN-Konferenz zum Thema nachhaltige Entwicklung in Rio 2012 (Rio+20) bekanntgegeben wurde. In diesem wissenschaftlichen Projekt geht es um die Erforschung der Architekturen von Institutionen, Organisationen, Verträgen und Mechanismen, mit denen die Menschheit gegenwärtig ihre Beziehungen mit der natürlichen Umwelt regelt – man könnte auch sagen: mit denen sie die Natur vor der Menschheit und ihrem Zugriff auf die natürliche Umwelt zu schützen versucht. Ausgangspunkt bei diesen Forschungen ist die offensichtliche Tatsache, dass dieses komplexe institutionelle Gefüge auf allen Ebenen unzureichend ist, um die fortschreitende Naturzerstörung, Auslöschung von Arten, den Klimawandel, den Eintrag von Phosphor in die Ozeane und Süßwassersysteme usw. zu verhindern oder auch nur zu verlangsamen. Das Buch nennt die Zahl von derzeit mehr als 1300 internationalen Verträgen allein zu Umweltfragen. Je rascher die „planetaren Grenzen“ (Johan Rockström u. a.) überschritten werden, umso mehr Institutionen werden auf verschiedenen Ebenen – auf der globalen bis zur lokalen– eingerichtet, und umso höher wird der Komplexitätsgrad dieser Governance-Architekturen und ihrer Wechselbeziehungen.

Die institutionellen Architekturen besser verstehen

Um die Situation zu verbessern, müssen diese institutionellen Architekturen besser verstanden werden. In ihrer Einleitung halten die beiden Herausgeber fest: „Jeder Versuch einer strukturellen  Transformation muss durch ein tiefes Verständnis des intrinsischen Systems von Akteuren, Normen, Institutionen und ihren Netzwerken informiert sein.“ (S. 10) An seinem Start 2009 entschieden sich die Initiatoren des Projekts dafür, sich ursprünglich auf folgende vier analytische Themen bzw. „Forschungslinsen“ zu konzentrieren: (1) Architecture, (2) Agency, (3) Adaptiveness, (4) Accountability, allocation and access. Das erste, zentrale Thema (“Architektur”) umfasst Fragen wie: Wie ist die Tätigkeit von Umweltinstitutionen beeinflusst durch ihre Einbettung in größere umfassende Governance-Architekturen? Wie kann man Fälle von „Nicht-Governance“ erklären (z. B. für das Problem der Entwaldung, für das derzeit kein globaler Vertrag existiert)? Was sind übergreifende Normen von Erdsystem-Governance?

Das Buch fasst die Ergebnisse der Forschung zu Architekturen der Erdsystem-Governance seit der ersten globalen Konferenz des Forschungsnetzwerks in Amsterdam 2009 zusammen, insgesamt zehn Jahre Forschungsentwicklung, und zwar konzentriert auf die globale Ebene. Es umfasst insgesamt 14 Beiträge von 41 AutorInnen, auch solchen, die nicht formal mit dem Projekt verbunden sind. Damit präsentiert der Band den aktuellen Stand der weltweiten wissenschaftlichen Diskussionen zu diesem Thema.

Bausteine, Eigenschaften, Interventionen, Perspektiven

Das Buch ist in vier Abschnitte gegliedert: (1) Bausteine von Architekturen von Erdsystem-Governance, u.  a. internationale Institutionen (Kapitel 2), die durch nationale Regierungen zur Lösung eines bestimmten Problems eingerichtet werden und die durch internationale Bürokratien funktionieren (Kapitel 3), wie z. B. das Sekretariat, das für die Klimarahmenkonvention der UNO (UNFCCC) arbeitet; (2) zentrale strukturelle Eigenschaften, die diese Bausteine auf der Mikro-, Meso- und Mikro-Ebene aufweisen, z. B. Verbindungen zwischen verschiedenen Institutionen auf der Mikro-Ebene (Kapitel 6); (3) politische Interventionen, mit denen nationale Regierungen und internationale Akteure auf diese Bausteine einwirken; und schließlich (4) neue Perspektiven für Politik und Forschung (Kapitel 14).

Im einleitenden Beitrag lenken die Herausgeber den Blick auf die grundsätzliche Notwendigkeit, nicht nur auf die einzelnen globalen Akteure (z. B. die internationalen Institutionen der UNO) zu blicken, sondern vielmehr das umfassende Gesamtsystem aus internationalen Institutionen, öffentlichen und privaten Organisationen, Verträgen, Regimen, Normen usw. auf unterschiedlichen Ebenen ins Visier zu nehmen, wie es die Forschung zur Earth System-Governance seit zehn Jahren macht. Nur von einer Analyse der komplexen globalen Architekturen her könne man das Wirken – oder das Versagen – der einzelnen Elemente adäquat verstehen. Und nur eine solche analytische Wende zum Gesamtsystem erlaube eine Vision der grundlegenden, notwendigen Neustrukturierung der Weltpolitik. Das Ziel bringen Biermann und Kim auf eine Metapher aus dem Bereich des Essens: „Es geht nicht darum, einen besseren Kuchen zu bekommen – es geht darum, die gesamte Bäckerei neu zu erfinden und zu strukturieren.“ (2)

Ein wichtiges Thema dieser Forschungen ist die Fragmentierung der derzeitigen globalen Governance-Architekturen (Kapitel 8). Diese seien oft aus unterschiedlichen langwierigen Prozessen hervorgegangen, die häufig parallel ablaufen und kein Werk von Planung und Koordination sind. Spezialisierte Ministerien verhandeln internationale Vereinbarungen, ohne mit Absprachen zu anderen Verträgen in Verbindungen zu stehen und diese abzustimmen. Eine Richtung unter den ForscherInnen zur Earth System-Governance vertritt die Position, diese Fragmentierung und mangelnde Koordination sei absichtlich hervorgebracht, weil mächtige Ländern davon profitieren würden, je schwächer globale Governance-Strukturen seien.

Ein wichtiger Versuch, im Kontext zunehmender globaler Vernetztheit und Abhängigkeit diese Fragmentierung zu überwinden und zu einer besser koordinierten Form von Problemlösung zu kommen, ist die „Agenda 2030“ für nachhaltige Entwicklung, mit ihren 17 Entwicklungszielen (SDGs), die von der UNO-Generalversammlung 2015 beschlossen wurde (Kapitel 12). Die Herausgeber verwenden dafür das Bild der „Orchestrierung“ (S. 9) globaler Governance in Form gemeinsamer Ziele (Kapitel 11). Eine ähnliche Funktion einer Orchestrierung der Anstrengungen für den Klimaschutz könnte auch der Weltklimavertrag von Paris mit seinen Zielen ausüben, der ebenfalls im Jahr 2015 im Rahmen des UNFCCC-Prozesses beschlossen wurde. Die SDGs würden eine „neue normative Entwicklung globaler Governance“ (S. 18) reflektieren. Bemühungen, u. a. im Zuge der Vorbereitung der UN-Konferenz Rio+20 die Anerkennung der „planetaren Grenzen“ als fundamentale Norm der Erdsystem-Governance zu formalisieren und sie in die „Agenda 2030“ zu integrieren, seien leider gescheitert (S. 17f.), ebenso Initiativen für eine Rahmenkonvention zu den planetaren Grenzen, vergleichbar der Konvention zum Klimawandel. Die Herausgeber erachten das Konzept der „planetaren Grenzen“ als nützlich für die rechtliche und theoretische Reflexion von Grenzen der nationalen Souveränität, wenn es um das planetare Gemeinwohl geht (vgl. S. 17).

Der Überblick über die Forschungen zu Architekturen der Erdsystem-Governance unterstreicht die zunehmende Bedeutung der Begriffe „Kompexität“ und „Polyzentrismus“ angesichts der zunehmenden institutionellen Komplexität von Governance-Strukturen, einschließlich des Aufstiegs privater Autoritäten, u. a. der Digitalkonzerne, die einen grundlegend „Komplexitätsinformierten Zugang“ erfordere (S. 304).

Zentral und drängend ist die Frage nach Governance-Architekturen, d. h. internationaler Regime und Institutionen, die offensichtlich jene Problemlösungen, für die sie geschaffen wurden, nicht leisten können. Wie könnten diese effizient und rasch reformiert werden? Ein wichtiges Beispiel ist die Struktur der globalen Biodiversitäts-Governance, die den galoppierenden Artenverlust, die „sechste Auslöschung“ (Elizabeth Kolbert) in der Geschichte nicht stoppen kann, möglicherweise aufgrund ihrer extremen Fragmentierung und Nicht-Koordinierung (S. 306). Diskutiert wird derzeit die Einrichtung eines „Globalen Pakts für die Umwelt“ als Rahmenabkommen des internationalen Umweltrechts (S. 307).

Wissenschaftliche Metaebene und Darstellung bisheriger Forschung

Wer sich von dem Buch angesichts der sich gegenseitigen verstärkenden Umwelt-, Klima- und Biodiversitätskrisen konkrete Vorschläge für eine Reform der Architekturen von Erdsystem-Governance erwartet, wird enttäuscht. Diese sind nicht Thema des Buches, das auf einer wissenschaftlichen Metaebene angesiedelt ist und die Ergebnisse der bisherigen Forschung darstellt. Durch ein besseres analytisches Verständnis des strukturellen Gesamtsystems müssen erst einmal die Voraussetzungen dafür erhellt werden, wie es erneuert werden könnte. Ein Konsens, in welche Richtung eine solche Reform gehen müsste, ist dabei nicht zu erwarten.

Als grundsätzliche Kritik könnte man vorbringen, dass der Band es verabsäumt, den zentral verwendeten Begriff „Erdsystem“ kritisch zu beleuchten. Was hat es für Implikationen für die Beziehung zur Erde, wenn sie als „System“ konzeptualisiert wird? Die französischen Historiker Christophe Bonneuil und Jean-Baptiste Fressoz haben in ihrem wichtigen Buch „The Shock of the Anthropocene“ (2017) darauf hingewiesen, dass diese Betrachtungsweise der Erde als „System“ die Basis für demiurgische technokratische Vorstellungen bildet, sie „managen“, kontrollieren und steuern zu können, wie sie im Kontext des Klimawandels in Geoengineering-Projekten zum Ausdruck kommen.