Bruno Latour, Nikolaj Schultz

Zur Entstehung einer ökologischen Klasse

Ausgabe: 2023 | 3
Zur Entstehung einer ökologischen Klasse

Was fehlt, um angesichts des dramatischen Zustandes unserer Welt eine kritische Menge an Menschen zu erreichen, die nachhaltiges politisches Handeln einfordern? Der kürzlich verstorbene Bruno Latour und Nikolaj Schultz versuchen skizzenhaft Antworten zu finden. Im Kern muss es die Bewegung beziehungsweise die Vielzahl an Bewegungen schaffen, sich selbst als Einheit zu definieren. Dieser Prozess erfordert zunächst, auch die vielen internen Konflikte, unterschiedlichen Positionen und oftmals konkurrierenden Interessen zusammenzubringen und dabei zu akzeptieren, dass die Natur erstmal nicht eint, sondern trennt. „Nun ist diese Diversität jedoch kein Manko, sondern Trumpf“ (S. 11), postulieren die Soziologen und führen weiter aus, dass ein ökologischer Blickwinkel es ermöglicht, umfassend die Bedingungen zu untersuchen, welche unsere Produktionsweise der vergangenen Jahrzehnte geprägt haben. Darüber hinaus birgt der Kampf um Klassifizierung eine weitere Herausforderung, denn unter dem Dach der ökologischen Frage treffen Menschen aufeinander, welche sich außerhalb dieses Themas nicht in den selben gesellschaftlichen Sphären bewegen. Die Grenzen zwischen Verbündeten und Gegner:innen sind folglich nicht klar ersichtlich. „Sie [die politische Ökologie, Anm.] muss sich ständig diese Frage stellen: ‚Wenn sich die Auseinandersetzungen um Ökologie drehen, wem fühlst du dich fern?‘ Die Entstehung eines möglichen Klassenbewusstseins ist nur um diesen Preis zu haben“ (S. 15). Die gemeinsame Basis sollte hierbei ein erweitertes Verständnis des Materialismus bilden, über Produktionsmittel hinausgehend stehen bei der ökologischen Klasse die Voraussetzungen zur Bewohnbarkeit der Erde im Mittelpunkt.

Etablierung und Legitimation

In Abgrenzung zu früheren Klassen soll die ökologische Klasse ihren Stolz und Antrieb daraus ziehen, dass sie die Lähmung des bestehenden Systems überwinden und als einzige brauchbare Lösungen anzubieten vermag, indem sie den Fokus von Produktionsverhältnissen hin zu Erzeugungspraktiken verschiebt. Dennoch, so die beiden Autoren, bleibt es eine Herausforderung, breite Begeisterung zu schaffen, wenn ihr doch das Hinterfragen bestehender Werte und Ziele wie Wohlstand oder Freiheit immanent ist. Der Vorwurf von Einschränkungen bestehender und hart erarbeiteter Standards kann aber abgefedert werden. Im Kontext der Freiheit schreiben sie: „Sich zu emanzipieren gewinnt eine andere Bedeutung, wenn es darum geht, sich daran zu gewöhnen, dass man schließlich und endlich von dem abhängt, das uns leben lässt!“ (S. 39). Damit wird die Natur zur Eigentümerin und entschlüpft ihrer Opferrolle, wie es bereits die Bewegung der Zadist:innen mit dem Slogan „Wir sind die Natur, die sich verteidigt“ (S. 42) vorzeigt.